Inszenierte sich selbst als "Sprachinstallateur": Autor Thomas Kling, hier aufgenommen in der Berliner "Literaturwerkstatt" in Pankow 1993.
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Poeten, die mit ausreichend Sendungsbewusstsein gesegnet sind, müssen einen Fehler unbedingt vermeiden: Sie dürfen niemals leise sprechen, sodass man sie womöglich überhört. Alles, was der Düsseldorfer Dichter Thomas Kling (1957–2005) öffentlich aussprach, artikulierte er von Anfang an lauthals. Rasselnd, stockend, alle Ohren foppend. Das Motto: bitte recht unfreundlich! "nebenbei erklärter / maßen blitzkrieg/blickfick (JETZT LÄC / HELN!) (...)", heißt es in ratinger hof, zettbeh (3).

Der Jungpoet versucht sich als Gestaltwandler, als Wahrnehmungskünstler, der schneller als der Rest der Welt die "Sichtungspräparate" in lautmalerische Sprache übersetzt. Dabei vermied Kling, die "Rampensau", konsequent die zum Wachschlaf verführende Dichterlesung: das immer gleiche Ritual mit Sessel, Tisch und halbvollem Wasserglas.

Noch prägte das No-Future-Gefühl die späten 1980er-Jahre. Der junge Kling – er war mit Joseph Beuys bestens bekannt – beanspruchte im weiß gestrichenen Künstleratelier sofort die Position in der Mitte. Irgendwo im Umkreis des Pop-Literaten avant la lettre stand vielleicht ein mit Wäscheleine umwickelter Eiskasten, und das Ganze hieß dann "effi b.", frei nach Fontanes Romanfigur Effi Briest. Dem Poeten wurde das Wort nicht erteilt. Er ergriff es zur Sicherheit gleich selbst.

Wie ein Berserker

Prompt stieß er die Verse heraus wie ein Berserker. Kling trug viel zu große Trenchcoats; oder er hielt auf Zettelchen die Reihenfolge seines Entkleidungsrituals penibel fest: von der Lederjacke herunter aufs Hemd, die Sonnenbrille unverrückbar auf der Nase. Keine Kling-Werkausgabe der Welt, auch nicht die eminent verdienstvolle des Suhrkamp-Verlags, vermag den Blitzeinschlag wiederzugeben, den die Ankunft des Autors im routiniert verschnarchten Literaturbetrieb der Bundesrepublik etwa zur Mitte der 1980er bedeutete. Damalige Nachfahren der historischen Avantgarden (Expressionismus, Dada) verbanden ihr Auftreten mit Reformansprüchen. Kling zum Beispiel wünschte Schluss zu machen mit der "neuen Innerlichkeit". Deren Vertreter brachen lasche Gedanken, lau geäußert, in schlampige Verse.

Kling spielte da nicht mit. Seinen Debütband "der zustand vor dem untergang" (1977) zerriss er in Schnipsel und verarbeitete diese auf einer Kunstmesse publikumswirksam zu Büchergulasch. Er setzte sich nach Wien ab und wohnte einige Zeit in der Lerchenfelder Straße zur Untermiete. Er erkannte in Persönlichkeiten wie H. C. Artmann oder Friederike Mayröcker die authentischen Übermittler einer sprachskeptischen Haltung. Aus dieser resultiert paradoxerweise ein Plus an überschäumender Sprachlust: Kling begeistert sich für die "halluzinatorische Energie der Sprache".

Tanzende Tachonadel

Er beginnt Gedichte zu verfassen, die mit tanzender Tachonadel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszillieren. Man muss sich die Wörter in Gedichtbänden wie "nacht. sicht. gerät." (1993) auf der Zunge zergehen lassen, ihr Schriftbild betrachten wie mehrfach belichtete Wort-Klang-Aufnahmen: "zungn-grund", "synapsnslang". Wobei nicht nur Lautpoeten wie August Stramm Pate stehen. Wer die Überlieferung liebt, muss sie in kleinste Bestandteile zerlegen. Auch Reiseeindrücke werden auf Splitterformat heruntergebrochen: "rolltreppe russland runter, / in teile zerborstenes wr / akk (...)".

Thomas Kling wird Suhrkamp-Autor. Er entfaltet eine allseitige Regsamkeit: Zur Poesie gesellt sich ein umfangreicher Überbau. Kling wird Polyhistor. Er beansprucht Vorläuferfiguren wie Oswald von Wolkenstein für sich. Er krallt sich als gebürtiger Rheinländer sogar den steifen Dichterfürsten Stefan George und denkt, in wunderbar anregenden Essays, über Weinbau und Wespenflug hinter Koblenz nach. Der vierte Band der Werke-Ausgabe konfrontiert auf 900 Seiten mit den süßen Früchten der Privatgelehrsamkeit. Vor allem aber lässt Kling implizit erkennen, dass er Magier zu sein wünschte. In seiner charismatischen Sendung war dieser "Sprachinstallateur" unbeirrbar. Lesungen veranstaltete er weiterhin als "Ohrenbelichtungen für alle".

Vorgänger wie Horaz und Hugo Ball, der Dada-Poet in der Pappendeckelröhre, wiesen ihm den Weg als Seher und Laut-Archivar. Erst in der Überlagerung von Schriftbild und Sprechstimme ereignete sich das "Fading": das eigentümliche Mysterium absoluter, wirklichkeitsverändernder Gegenwärtigkeit. 25 Jahre nach dem viel zu frühen Krebstod Klings hat der Suhrkamp-Verlag rund 850 Seiten aus dem Nachlass hervorgeholt.

Auf dem Weg zu einer historisch-kritischen Ausgabe ist diese vierbändige Wunderschachtel eine 2692 Seiten starke Zumutung: mit allen Gedichtsammlungen und etlichen nachgereichten Kuriositäten (Kinokritiken!). Der unwiederholbare Kling-Sound klingelt jetzt den nachbuchstabierenden Lesern wohltuend in den Ohren: "die zungnmitschrift also / blanke listen." (Ronald Pohl, 23.1.2021)