Seine Texte sind Teil des Wiener Stadtbilds: Helmut Seethaler in Aktion.

Foto: Christian Fischer

"Pflückgedichte" nennt Helmut Seethaler seine Texte, mit denen er seit beinahe fünf Jahrzehnten Wiener Litfaßsäulen oder U-Bahn-Wände plakatiert. Warum Corona auch dem Underground-Poeten zusetzt.

STANDARD: Sie können derzeit nur mit Einschränkungen Ihre Texte plakatieren. Warum?

Seethaler: Die Wiener Linien haben mich sehr freundlich gebeten, in den U-Bahn-Stationen keine Texte mehr an die Säulen zu kleben. Ich halte mich daran, obwohl ich sagen muss, dass nur einzelne Menschen bei meinen Gedichten stehen bleiben. Keine Massen.

STANDARD: Wohin weichen Sie aus?

Seethaler: Die kleine Brücke an der Rossauer Lände zur U4, den Siemenssteg, den mache ich fast täglich. Dort erreiche ich ein Publikum, das viel schwieriger und interessanter ist als jenes, das ich in der Kärntner Straße hatte. Helmut Zilk hat mir dort damals zwei Bäume zur Verfügung gestellt. Super!

STANDARD: Ein Problem für Sie ist, dass die Copyshops geschlossen sind.

Seethaler: Ich habe immer einen kleinen Vorrat an Kopien, die sind mittlerweile aber aufgebraucht. Ich mache das Ganze ja seit 47, 48 Jahren und habe viele Abonnenten, die meine Pflückgedichte sammeln. Ich muss also ganz schön viel kopieren. Jemand hat mir erzählt, dass ein Copyshop am Schottenring offen hat, das muss ich aber erst kontrollieren.

STANDARD: Der Stellenwert des öffentlichen Raums hat sich durch die Pandemie geändert. Hat das auch Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

Seethaler: Ich beobachte, dass weniger Leute bei meinen Texten stehen bleiben. Es gibt eine Grundangst, zu nahe zu kommen. Gleichzeitig sind die Menschen aber gesprächsbereiter. Wenn ich auf der Straße plakatiere, werde ich öfter angesprochen als früher. Die Leute suchen vermehrt nach meinen Texten, bitten mich öfter, sie ihnen zuzuschicken.

STANDARD: Und inhaltlich, thematisieren Sie da die Pandemie, ihre Auswirkungen?

Seethaler: Eigentlich nicht. Manche Texte sind wie Seelenwimmerln, sie sind gleich fertig. Und dann gibt es ältere Texte, die ich wieder hervorhole, verwerfe oder noch einmal überarbeite und bildlich anders mache. Im Moment mache ich vor allem das.

STANDARD: Sie plakatieren in der Nacht. Jetzt gibt es Ausgangsbeschränkungen ...

Seethaler: ... die Polizei kennt mich. Man hat mich einmal angehalten, aber da habe ich ihnen gesagt, dass ich zwischen eins und fünf in der Früh eh allein unterwegs bin. Ich kann niemanden anstecken. Also die Polizei, die gibt a Ruh.

STANDARD: Sie leben von Ihrer Tätigkeit. Recht viel können Sie aber nicht verdienen, oder?

Seethaler: Früher gab es viele Lesungen, die auch gut bezahlt waren, 500 oder 600 Schilling. Wegen der Pandemie wurden mir jetzt bereits fünf Lesungen abgesagt. Einmal im Jahr gibt es ein Literaturstipendium vom Staatssekretariat, vom Kulturamt bekomme ich auch jedes Jahr eine Weihnachtsförderung, ein paar Hundert Euro.

STANDARD: Und mit dem wenigen Geld kommen Sie aus?

Seethaler: Fans schicken mir Briefe mit kostendeckendem Porto zusammen mit ein paar Geldscheinen, damit ich ihnen meine Texte zuschicke. Das ist kein unerheblicher Teil meiner Einnahmen. Einmal hat mir jemand vor Weihnachten sogar 500 Euro geschickt. Davon lebe ich einen Monat. Ich habe meine kleine Wohnung, meine drei Töchter sind erwachsen, ich brauche nicht viel.

STANDARD: Haben Sie auch Corona-Hilfen bekommen?

Seethaler: Die Literar Mechana (Verwertungsgesellschaft, Anm.) hat mir ohne Ansuchen zweimal 250 Euro geschickt. Die kümmern sich wirklich um die Leut’. Ich brauch keinen Luxus, ich brauch nur eine Kopierkarte.

STANDARD: Die ehemalige Kunstministerin Hilde Hawlicek hat Ihnen einst den Kopierer im Parlament zur Verfügung gestellt.

Seethaler: Das war die beste Förderung, die ich je bekommen habe.

STANDARD: Vor etwa zwei Jahren haben Sie aufgehört, Ihre Texte zu plakatieren. Sie haben aber bald wieder angefangen. Was ist passiert?

Seethaler: Ich wurde von einem 19-Jährigen überfallen. Bei der Verhandlung habe ich gebeten, dass man ihn nicht einsperrt. Dann hat es mich auf der Mariahilfer Straße aufgehaut, die Brille war kaputt, glücklicherweise haben sie Fans bezahlt. Das war ein Schock, nach ein paar Wochen hab ich mich wieder derfangen.

STANDARD: Sie arbeiten seitdem wieder ähnlich intensiv wie früher?

Seethaler: Derzeit nicht. Mir fehlen wie gesagt die wichtigsten U-Bahn-Stationen. Aber bitte, ich halte mich an die Einschränkungen. (Stephan Hilpold, 22.1.2021)