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Am Anfang mögen manche geträumt haben vom Entschleunigen. Nun stöhnt ein jeder über die bremsenden Seepocken, die sich festgesetzt haben am Alltag.

Illustration: Armin Karner; Foto: Getty

Es zieht sich. Der erste Lockdown im Frühjahr war noch umschmeichelt vom aufregenden oder zumindest aufgeregten Zauber des Neuen. Es kam ein wunderschöner Sommer; es kam ein kurzer Herbst, sogar ein Licht am Ende des Tunnels. Dann folgte aber ein vermaledeiter Winter. Und nun haben wir den wievielten Lockdown? Den dritten? Den vierten? Es hat angefangen, sich zu ziehen. Was heißt? Es zaaaaaht si!

Wenn sich dieser erste Lockdown dann jährt, am 16. März wird das sein, werden wir fast ein halbes Jahr im Ausnahmezustand verbracht haben. Wir sind uns aus dem Weg gegangen, haben uns, so gut es eben ging, gemieden. Wer musste, musste arbeiten gehen. Aber dann ohne Verzug und ohne Zwischenstopp beim Wirten wieder nach Hause! Denn das ist der Plan: einander nicht über den Weg zu laufen. Gesund, nein, ist das nicht. Aber was tut man nicht alles für die Gesundheit?

Das soziale Leben wurde und wird auf Haushaltsgröße eingedampft. Mit xenophober Erbsenzählerei hat zu rechnen, wer haushaltsfremd ist. Appelle an die Vernunft jedes Einzelnen wurden und werden verkündigt wie einst Wahrworte von der Kanzel. Selbst von Eigenverantwortung wurde geredet. Aber bald wieder gelassen und auf Höllenstrafen gesetzt. Schnell waren auch Ketzer und Ungläubige – Corona-Leugner – ausgemacht. Aber selbst die Vernünftigsten unter den eh Einsichtigen geben zu: Der Mensch lebt nicht von z’Haus allein.

Ausnahmezustand ist Alltag geworden

Wär’s also ein Wunder, wenn wir wunderlich werden? Jetzt, da einem der Ausnahmezustand zum Alltag geworden ist, der einem über den Kopf wächst? Am Anfang mögen manche geträumt haben vom Entschleunigen. Nun stöhnt ein jeder über die Seepocken, die sich festgesetzt haben am Alltag, als seien sie bloß die bremsenden Annahmen von früher her.

Du versteifst dich auf dich. Das sonst so geläufige Abschleifen deiner Absonderlichkeiten im außerhäuslichen Alltag ist, wenn schon nicht unmöglich, so doch vernachlässigt wie dein Haarschnitt, von dem du selbst schon längst per "Zouttn" sprichst. Haushalte picken ohne Auslauf aufeinander und haben längst schon gemeinsame Wunderlichkeiten ausgebrütet. Kinder kindern. Die Jungen? Frage nicht!

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Die Wunderlichkeit war einst das Vorrecht des Alters, wenn nicht nur die Gelenke steif werden, sondern auch die Angewohnheiten. Die haben im Lauf eines Lebens die Form von Marotten und Schrullen angenommen, die dann in ihrer Quersumme etwas ergeben, was die Jüngeren für gewöhnlich "g’spaßig" nennen.

Wenn einer sein Leben lebt, wie der Tennisspieler Rafael Nadal seinen Aufschlag schlägt – Griff zum linken Ohrlapperl, rechten Ohrlapperl, Nase, linker Ärmel, rechter Ärmel: bumm –, dann weißt du, was man unter wunderlich versteht. Bei so etwas hast du dich im Ausnahmejahr öfter ertappt. Und nicht nur du dich. Ich mich auch; oder vor allem.

Luxusvariante des Verzweifelns

Wunderlich werden: Eh, das ist die Luxusvariante des Verzweifelns. Wunderliche haben sich, sagt man, halt einen Spleen eingezogen wie einen Schiefer. Anderen – vielen – dagegen geht gerade, handfest und brutal, ein Leben zu Bruch. Oder wissen, wie viele Eltern, nicht mehr, wo hinten und vorne ist.

Doch niemand sollte das wunderliche Spinnen – ein verwirrendes Sich-Verstricken in sich selbst – weglächeln. Am Einzelnen mag ja die Lächerlichkeit das Auffälligste sein. Aber was wird sein, wenn das Lockdownen schließlich dem Ende zugeht? Wirst du mit alter Unbefangenheit dich wirklich ins Geschehen mischen können?

Oder wird dieses Geschehen ein Gemenge lauter Wunderlichkeiten sein? Was, wenn nicht nur ein jeder für sich verschroben, sonderbar und – ja, wörtlich – eigenbrötlerisch geworden ist? Sondern wir alle zusammen, als Ganzes? Eine wunderliche Gesellschaft. Und nicht nur eine gekränkte, wie Konrad Paul Liessmann unlängst diagnostiziert hat.

Einsamkeit

Der theatralisch-literarische Seismograf Peter Wagner hat – im ersten Lockdown war das noch – ein bezauberndes, bildstarkes Stück mit dem Titel Bleib mir vom Leibe! inszeniert. Kann sich das zu einer Prophetie verknöchern? Werden wir leutscheu geworden sein? Zueinander so auf Distanz gehen, wie es sich vor dem Virus da und dort bloß angekündigt hat?

Vor drei Jahren hat die britische Premierministerin Theresa May ein Ministry of Loneliness eingerichtet, das jetzt, unter Boris Johnson, von Diana Barran geführt wird. Die Baronesse sieht ihr Ministerium gerade jetzt gefordert. Covid habe "die Einsamkeit an die Öffentlichkeit gebracht". Hinter einem vollen Pint war gut reden, da habe man geglaubt, "na ja, einsam sind die anderen". Aber jetzt?

Jetzt hilft dir Sgt. Pepper mit seiner Lonely Hearts Club Band genauso wenig wie dem US-amerikanischen Journalisten Jeffrey Toobin, der während einer Zoom-Konferenz bei irrtümlich eingeschalteter Kamera tat, was einsame Herzen zuweilen traurig tun. Aber nicht miteinander. Corona hat alle zu einer gewissen Selbstgenügsamkeit gezwungen.

Trost im Tristen

Boomer und Boomerinnen werden wohl von der Vorstellung eines früheren Lebens geplagt, in dem es anderthalb Fernsehprogramme und kein Internet gegeben hat. Eine solche Vorstellung hilft wenigstens beim Erträglich-Finden.

Trotz all des Naserümpfens über Facebook, Twitter und Co schaut man – der Wirt hat ja zu – doch dort vorbei. Seit geraumer Zeit sitzen Claus Pándi von der Kronen Zeitung und Ur-Falter Armin Thurnher gemeinsam an einem Twitter-Tisch und schieben einander Gedichte zu.

Ohne Zweifel wunderlich. Aber doch auch wunderbar. Wie ein möglicher Vorgriff auf etwas Schönes im eventuell Künftigen. Pándi’sche und Thurnher’sche Ruheinseln sind das jetzt schon im enervierenden Gedröhn der immergleichen Tagesaufgeregtheiten. Trost im Tristen: Poetica vincit.

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Nicht alles, was wunderlich ist, deutet also unmittelbar auf einen Dachschaden. Aber manches dann doch. Unlängst rief ich wegen irgendwas im "Bgld. Landeshauptmann’schen Preßbüro" einen dort Altgedienten an, von dem ich weiß, dass er nicht nur ein passabler Fußballspieler gewesen ist, sondern auch ein noch passablerer Ministrant.

Ihm erzählte ich, dass ich, verwirrt vom Geraune der fern werdenden Welt, angefangen habe, zur Orientierung im Thomas von Aquin zu blättern. Er brachte, wie zum Trotz, den bald 91-jährigen Philosophiehistoriker Kurt Flasch ins Spiel. Und jetzt lese ich, Satz für Satz, den mittelalterlichen, von Flasch erstmals ins Deutsche gesetzten Liber XXIV philosophorum. Ein gefährliches Buch in Zeiten grassierender Wunderlichkeit.

Ich halte gerade bei Satz zwei: "Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist." Ich trage mich mit dem Gedanken, den Rapid-Trainer Dietmar Kühbauer um eine Ausdeutung zu bitten.

Oder würde der mich dann für schon heil- und rettungslos wunderlich halten? (Wolfgang Weisgram, 23.1.2021)