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Die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen die Teilnehmer an der – aus Sicht des Staates illegalen – Kundgebung vor.

Foto: Reuters / Maxim Shipenkov

Moskau – Die Geografie des Protests weitet sich aus in Russland: Waren in der Vergangenheit Demonstrationen vor allem auf Moskau und St. Petersburg beschränkt, haben an diesem Wochenende in 110 Städten Russen gegen Korruption und für die Freilassung des Oppositionellen Alexej Nawalny demonstriert.

Die Proteste reichten von Juschno-Sachalinsk in Russlands Fernem Osten bis hin zur Ostsee-Exklave Kaliningrad ganz im Westen; von Murmansk nördlich des Polarkreises bis ins subtropische Sotschi. In der ostsibirischen Großstadt Jakutsk konnten nicht einmal Temperaturen von Minus 50 Grad die Bürger vom Protest abbringen.

40.000 Menschen gingen am Samstag in Moskau auf die Straße – oder waren es doch nur 4.000, wie die Exekutive beteuerte?
Foto: Sergei Savostyanov

Die zahlenmäßig größte Aktion fand in Moskau statt. Die Schätzungen über die Teilnehmerzahl schwanken jedoch erheblich. Während die Behörden nur 4.000 Demonstranten zählten, kam die Nachrichtenagentur Reuters auf rund 40.000 Personen. Bilder aus den umliegenden Wohngebäuden legen die Vermutung nahe, dass Reuters mit seiner Schätzung näher an der Wahrheit liegt.

75 Millionen Klicks für den Palast

In jedem Fall waren in Moskau schon mehr Menschen auf der Straße, woraus regierungstreue Kommentatoren sogleich schlussfolgerten, dass Nawalnys virtuelles Mobilisierungspotenzial deutlich höher sei als in der realen Welt, hatte sein Video über den angeblich Präsident Wladimir Putin gehörenden Luxuspalast am Schwarzen Meer doch in wenigen Tagen mehr als 75 Millionen Klicks erzeugt.

Allerdings waren die vorangegangen Protestaktionen mit mehr Beteiligung – zuletzt im Sommer 2019 nach dem Rauswurf von Oppositionskandidaten bei der Wahl zur Moskauer Stadt-Duma – auch von den Behörden genehmigt worden. Diesmal hatten die Ämter landesweit unter Berufung auf die Coronapandemie die Veranstaltungen untersagt. Viele gemäßigt kritische Bürger blieben daher aus Angst vor Zusammenstößen und juristischen Folgen daheim.

Tatsächlich ging die Polizei hart gegen die Demonstranten vor, auch wenn aus den Lautsprechern am Moskauer Puschkin-Platz schallte: "Geehrte Bürger, die Veranstaltung ist illegal, wir tun alles, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten." Beamte der Sondereinheit Omon griffen sich zunächst einzelne Protestierende aus der Menge und zerrten sie in nahestehende Gefängnistransporter.

Für die Freilassung Alexej Nawalnys gingen 40.000 Demonstranten auf die Straßen.
DER STANDARD

Auch die Polizei beklagt Gewalt

Insgesamt nahm die Polizei in Moskau 1.300 Menschen fest, in St. Petersburg über 500, russlandweit nach Angaben der Bürgerrrechtsorganisation "OWD-Info" sogar mehr als 3.000 – so viele wie noch nie. Mehrere Menschen mussten sich ambulant behandeln lassen. Aufsehen erregte ein Fall in St. Petersburg, wo ein Uniformierter einer Frau in den Bauch trat. Allerdings klagte auch die Polizei über Gewalt gegen Beamte. Insgesamt 40 Uniformierte seien zu Schaden gekommen, teilte das Innenministerium mit. Gegen eine Reihe von Demonstranten wird nun strafrechtlich ermittelt.

Auch den Organisatoren der Proteste droht Ärger: Ljubow Sobol, eine der engsten Mitarbeiterinnen von Nawalny, aber auch dessen Frau Julia wurden bereits wenige Minuten nach ihrer Ankunft bei der Kundgebung abgeführt.

"Verfolgt ihre Geldströme"

Wegen des brutalen Vorgehens forderten teils aus Sorge um ihr Leben ins Ausland geflüchtete prominente russische Oppositionelle die EU zu Sanktionen gegen Oligarchen und Freunde von Putin auf. "Jagt sie, verfolgt ihre Geldströme", sagte der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow. "Hört auf, mit der Mafia zusammenzuspielen." Die Sanktionsgesetze in den USA und in der EU lägen bereit, um die Vermögen von Putins milliardenschweren Freunden im Westen zu sperren.

"Putin wor!" – "Putin ist ein Dieb!", riefen die Menschen in Moskau und vielen anderen Städten. Es war der Satz des Tages, der die vielen Demonstranten im ganzen Land auch über die riesigen Distanzen miteinander verband. Dabei ging es nicht nur um den "Raub von demokratischen Freiheitsrechten". Viele forderten "Freiheit! Freiheit!" – ein Russland ohne Repressionen. Dass Putin als Dieb bezeichnet wird, hängt vor allem mit den Korruptionsvorwürfen gegen ihn und seinen Machtapparat zusammen.

"Zarenreich" mit Casino und Arena

Putins Gegner Nawalny deckt diese Machenschaften seit Jahren auf – und hat deshalb besonders viele Feinde in der russischen Führung. Der Clou: In seinem jüngsten Enthüllungsvideo über die Bereicherung an der Staatsspitze zeigt Nawalnys Team unter dem Titel "Ein Palast für Putin" erstmals Bilder, Augenzeugenberichte und Dokumente zu Russlands größtem privaten Anwesen. Der 44-Jährige hält es für erwiesen, dass das milliardenschwere "Zarenreich" mit Casino, Eishockey-Arena und Hubschrauber-Landeplatz dem Präsidenten gehört.

Finanziert worden sein soll alles aus Schmiergeldern, die der Kremlchef von seinen Freunden in Staatskonzernen und von Oligarchen erhält. Der Kreml wies das wiederholt als "Unsinn" zurück. Doch auch Tage nach der Veröffentlichung des Videos mit fast 80 Millionen Aufrufen bis Sonntagnachmittag hat sich noch niemand zu dem Grundstück am Schwarzen Meer bekannt.

Langer Weg

Das Video dürfte die laut Soziologen inzwischen verbreitete Proteststimmung in Russland noch einmal zusätzlich aufgeladen haben. "In Russland ist endgültig eine Diktatur errichtet worden", sagte der frühere Ölmanager und Oligarch Michail Chodorkowski, der selbst nach Kritik an Putin jahrelang im Straflager saß. "Der Hauptgrund, um an der Macht zu bleiben, ist ein unvorstellbarer Diebstahl und der Wunsch, der Verantwortung für die begangenen Verbrechen zu entgehen."

Zwei Stunden lang demonstrierten in Wien am Samstag vor der russischen Botschaft vor allem junge Menschen.
Foto: Christian Fischer

Chodorkowski, Kasparow und der ebenfalls in der Vergangenheit schon vergiftete Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa betonten bei einer gemeinsamen Online-Pressekonferenz, dass es ein langer Weg sei für einen Wandel in Russland. Das System Putin sei zwar stark. Kara-Mursa meinte aber, dass die russische Geschichte mehrfach gezeigt habe, dass revolutionäre Prozesse sich ganz spontan ergeben könnten.

EU-Außenminister beraten am Montag

Die Außenminister der EU-Staaten beraten am Montag in Brüssel über mögliche Reaktionen auf das Vorgehen gegen Nawalny und dessen Anhänger. Bereits vorige Woche hatten einige Mitgliedstaaten neue Sanktionen als realistische Option bezeichnet.

Die nächste Gerichtsverhandlung gegen Nawalny ist für den 2. Februar angesetzt.

Härtere Strafen für Proteste geplant

Die Duma will derweil die Gesetze weiter verschärfen, um diejenigen, die Jugendliche zu den Protesten heranziehen, deutlich härter zu bestrafen. Bis zu fünf Jahre Haft gibt es einem neuen Gesetzesprojekt nach dafür. Noch ist unklar, ob das Gesetz durchkommt, die Regierung zeigte sich in einer ersten Reaktion skeptisch.

Die Opposition ihrerseits zeigt sich ebenso wenig bereit, aufzugeben. Für den 31. Jänner ist bereits die nächste Demo in Moskau angekündigt. Im September wird eine neue Duma in Russland gewählt. Zwar kann Nawalny daran nicht mit einer eigenen Partei teilnehmen, doch dass der vom Kreml als "unwichtig" eingestufte "Berliner Patient" den Wahlkampf bestimmen wird, scheint angesichts der jüngsten Ereignisse gewiss.

Laut, aber friedlich versammelt waren in Wien an die 200 Demonstranten.
Foto: Christian Fischer

Demos auch in Wien, Berlin, München

Auch in Wien demonstrierten Samstagnachmittag an die 200 vorwiegend junge Menschen für die Freilassung Nawalnys vor der russischen Botschaft im "Botschaftsviertel" im dritten Bezirk. "Menschen, die ihr Recht auf Versammlung und Meinungsfreiheit friedlich ausüben, dürfen nicht kriminalisiert werden", erklärte das Außenministerium in Wien in einem Tweet am Samstagnachmittag. Man verfolge die Proteste in Russland genau und erwarte, dass alle Verpflichtungen des Europarates und der OSZE eingehalten werden. Aufmärsche gab es auch in Berlin, München, Düsseldorf und Leipzig. (André Ballin aus Moskau, dpa, 24.1.2021)