Monika Helfers Familie um 1950 mit Gästen vor dem Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla auf 1.220 Metern, das ihr Vater Josef verwaltete. Mit dem frühen Tod der Mutter zerreißt das Kindheitsglück.

Foto: Cinedoku / Erwin Thurnher

Vergangenes Jahr hat die Autorin Monika Helfer mit Die Bagage über die Familiengeschichte ihrer Mutter im Bregenzerwald einen Bestseller gelandet. Nun widmet Helfer sich in Vati (Hanser) der Biografie ihres Vaters Josef: Im Lungau als uneheliches Kind einer Magd geboren, dank herausragender Leistungen und der Fürsprache des Baumeisters aufs Gymnasium geschickt, ein halbes Jahr vor der Matura aber zum NS-Kriegsdienst eingezogen, kam er aus Russland mit nur noch einem Bein zurück. Sein Wunsch, Chemie zu studieren, erfüllt sich ihm nicht. Stattdessen wird der junge Mann Verwalter eines Kriegsopfererholungsheims. Zentral bleibt aber seine Liebe zu Büchern. Helfer erzählt auf den 176 Seiten von all dem, ihm und sich selbst – sanft, doch nicht rührselig.

STANDARD: Ist Ihr Vater Ihnen durch dieses Buch klarer geworden? Haben Sie etwas Neues über ihn dazugelernt?

Helfer: Ich habe mich an meinen Vater gewöhnt, schon während des Schreibens. Er war verschlossen und dünnhäutig, wie viele Männer nach dem Krieg, denke ich, und gerade weil er noch so jung war, konnte er die Kriegszeit nicht verkraften.

STANDARD: Sie beschreiben ihn dennoch als einen sanften Vater – der typische Nachkriegsvater in der österreichischen Literatur ist ganz anders …

Helfer: Er war gewiss in vieler Weise ungewöhnlich, musste aber auch mit diesem Nachkriegstrauma leben. Und je mehr er versuchte, es zu verdrängen, desto mehr wurde ihm bewusst, dass ihn diese Zeit einholt. Er konnte nur mit Lesen überleben.

STANDARD: Was sagte er, als Sie Autorin wurden?

Helfer: Mein Vater tat sich schwer mit Lob, aber ich glaube, es hat ihm schon gefallen.

STANDARD: Sie haben oft über Familien geschrieben, aber vergangenes Jahr in "Die Bagage" erstmals über Ihre eigene. Gab es eine Scheu, an etwas zu rühren, was Ihnen so nah liegt?

Helfer: Es kostet Überwindung, das Eigene genau zu betrachten, ich meine mein Eigenes und die eigene Familie. Einerseits will ich genau sein, andererseits brauche ich die Fiktion. Durch die Fiktion erreiche ich eine Vergrößerung, in die ich meine Wahrheiten stecken kann.

STANDARD: In welchem Verhältnis stehen Fiktion, das historisch Wahre und Ihre "Wahrheiten" denn in "Vati"?

Helfer: Ich bin froh, wenn meine Fantasie galoppiert, und ich will sie dann nicht zügeln. Das Wahre ist sowieso nur mein Wahres, und die anderen haben ihre eigene Wahrheit.

STANDARD: Sind Sie vor manchen Passagen zurückgeschreckt?

Helfer: Es gibt Szenen, die ich mit großer Vorsicht beschreibe. Dünnes Porzellan soll nicht zerbrechen, will aber gebraucht sein.

STANDARD: Sie halten nicht viel davon, zur Therapie zu schreiben. Ließ sich das bei "Vati" aber vermeiden?

Helfer: Ich finde, es mindert die Literatur, wenn sie unter Therapie zustande kommt. Für mich ist Literatur alles andere als ein Medikament, ihr gebührt Eigenständigkeit.

STANDARD: Als 15-Jährige zitterten Sie, als Ihr Vater einmal mit Ihnen sprechen wollte wie mit einer "Freundin" statt wie mit seinem Kind. Wie haben Sie selbst Ihre Kinder erzogen?

Helfer: Ich halte es für sinnvoll, mit den Kindern als Eltern zu verkehren, zumal Kinder dann wissen, wohin sie gehören, an wen sie sich bei Problemen wenden können. Eine Freundin als Mutter gibt Gleichheit vor, die nicht existiert. Wir haben zu unseren Kindern, so hoffe ich, eine dehnbare Beziehung. Wir sagen dazu: liebevolle Verwahrlosung.

STANDARD: Die Sprachgenauigkeit Ihres Vaters verfolgte Sie, als Sie zu schreiben anfingen. Wie ist das heute?

Helfer: Hin und wieder sehe ich seinen Zeigefinger. Das ist gar nicht so schlecht, weil er mich mahnt, die Worte mit Bedacht zu wählen.

STANDARD: Hängt damit auch die Knappheit Ihrer Texte zusammen?

Helfer: Ich schreibe knapp, muss aber schon korrigieren. Vielleicht ein wenig ausbauen.

STANDARD: Sie erzählen in dem Buch genauso Ihre eigene Lebensgeschichte. Als Sie zwölf sind, stirbt Ihre Mutter, und Sie und Ihre Geschwister kommen nach Bregenz zu Verwandten.

Helfer: Aus der kindlichen Sicht war das ein Schock, an den wir Mädchen uns erst gewöhnen mussten.

STANDARD: Das Buch wird dennoch nie rührselig.

Helfer: Das liegt daran, dass ich Angst vor Kitsch habe und immer schaue, dass ich nicht abrutsche. Kitsch kann alles kaputtmachen.

STANDARD: Wegen Corona fielen viele Lesungen zu "Die Bagage" aus, "Vati" ergeht es nun nicht besser. Sie halten sich aber grundsätzlich vom Trubel des Literaturbetriebs fern ...

Helfer: Was spürbar bei entgangenen Lesungen ist, ist das nicht verdiente Geld. Ich hoffe, dass Lesungen wieder stattfinden. Ich freue mich auf das Publikum.

STANDARD: Sie schauen sich sehr gerne Menschen an. Wie sehr schränkt der Umstand, dass man nun während der Pandemie nicht zu viel hinaussoll, die Bedingungen Ihres Schreibens ein?

Helfer: Die Beobachtung geht mir sehr ab – alles, worüber ich schreibe, hätte ich mir vorher gern angeschaut. So freue ich mich mächtig auf die normale Zeit. (Michael Wurmitzer, 25.1.2021)