Hoffentlich ist mein Lippenstift nicht verschmiert. Ich zupfe an meinem schwarzen Kleid und fahre mir noch zweimal durch die Haare. Nachdem ich die vergangenen Wochen überwiegend in Trainingshose und Oversized-Pullis verbracht habe, ist es ein tolles Gefühl sich wieder mal schick zu machen.

"Na, wie geht's?", grinst er mir entgegen und öffnet seine Haustür. Vor einer Woche waren wir das erste Mal spazieren. Jetzt bin ich da. Ein Abendessen bei ihm zu Hause. Kurze Begrüßung, dann lege ich meinen Mantel ab und orientiere mich. Es riecht frisch nach Waschmittel. "Mach's dir gemütlich und schau dich um, ich hol uns etwas zu trinken!"

Unbeschwertes Daten in einer Pandemie: Geht das?
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Das Schlafzimmer fällt mir zuerst auf. Aufgeräumt und sauber. Eine Seite des Kleiderschranks ist offen, und ich sehe nur Hemden. Alle nach Farben geschlichtet und gebügelt. Ich liebe Ordnung. Wenn es bei mir einmal chaotisch aussieht, dann nur aus zwei Gründen. Erstens: Ich habe eine fette Homeparty geschmissen. Selten der Fall, denn: First rule of a homeparty – never be the host. Zweitens: Ich bereite mich für ein Date vor. Unter diesen Umständen wird mein kompletter Kleiderschrank auf den Kopf gestellt, alle Lippenstiftfarben werden ausprobiert. Wassergläser sind mit Lippenabdrücken in unterschiedlichen Rottönen versehen. Die einzelnen Outfits liegen dann zwischen Schlaf-, Wohn- und Badezimmer verteilt auf dem Boden.

Trinken. Tanzen. Lachen. Flirten.

Zu dir oder zu mir? Viel mehr Alternativen gibt es derzeit nicht, und sogar das ist nur zwischen zwei Lockdowns möglich. Zach. Auf dem Esstisch der schlicht eingerichteten Wohnung liegt schon ein bestelltes Sushi-Set. Ich drehe mich um. Markus steht mit einer kleinen Nachttischlampe vor mir. "Das Licht ist hier so ungemütlich, findest du nicht?", fragte er. Das finde ich süß. "Mit Kerzenlicht wäre das dann doch zu romantisch", zwinkert er mir zu. Selbstverständlich musste so eine Aussage folgen. Man will ja trotzdem noch cool wirken.

Sind es weniger Dates, seitdem es Corona gibt? Ja, behauptet er und sagt, er vermisse das "Vorglühen" bei Freunden und dann weiter in den Voga. Der Club im Wiener Volksgarten. Trinken. Tanzen. Lachen. Flirten. Das gibt es schon lange nicht mehr. Es ist schon fast etwas Außergewöhnliches, jemanden in persona kennenzulernen und nicht über Tinder, Bumble und Co. Der Ablauf ist fast immer derselbe. Die ersten Fragen: "Was studierst du, woher kommst du, und was machst du sonst noch so?" Wenn man sich dann tatsächlich die Mühe macht und sich auf einen Spaziergang mit "Coffee to go" trifft, ist es häufig eine Enttäuschung.

Casting auf Tinder

Wie vermeidet man die am besten? Man könnte es fast mit einem anstrengenden Casting vergleichen. Hat er nur ein einziges Foto auf Tinder, ist es ein eindeutiger Links- Swipe (ein Nope). Rechts-Swipes muss er sich erst "verdienen". Der Satz "Ich bin es wert, nach rechts zu swipen, du wirst schon sehen!" klingt eher wie autogenes Training. Noch weniger Eindruck machen Sätze wie "Wollen wir zusammen eine Capri-Sonne trinken?" oder "Mit Wieselburger massiert sich's besser!". Wenn man es bis zu einem Treffen geschafft hat, kann man nur hoffen, die Person in natura wiederzuerkennen.

Markus ist groß, blond, hat ein hübsches Lächeln. Wir haben uns beim Einpacken von "Geschenksackerln für Bedürftige" kurz vor Weihnachten kennengelernt. Ein Zufall. Jemandem im "echten Leben" zu begegnen, bevor man seine Selbstbeschreibung gelesen hat, ist derzeit eine Ausnahme.

Auf dem gläsernen Couchtisch vor mir steht noch eine leere Kaffeetasse, wahrscheinlich von heute früh, daneben ein Buch über Barack Obama. Markus ist ein Gentleman, Mitte 20 und um zwei Jahre älter als ich. In meinem Weinglas ist nur mehr ein kleiner Schluck übrig. Schon hat er die Flasche in der Hand und schenkt mir nach. Er ist aufmerksam, und ich bin nervös. Will er mich abfüllen? Oder einfach ein netter Gastgeber sein? "Willkommen in Währing!", prostet er mir zu. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals gleich nach dem ersten Date zu jemandem nach Hause gefahren wäre.

Red Flags und Verabschiedungen

Von Familiengeschichten über Politik bis hin zu Ex-Freunden und Freundinnen reicht die Themenpalette. Auch nach ein paar Gläschen Wein wirkt er nicht angetrunken. Dafür bekommt er ein imaginäres Plus von mir. Und gleichzeitig suche ich nach "Red Flags" – dem, was gar nicht geht. Das tue ich immer. Womöglich ein Tinder-Tick. Die anscheinend unbegrenzten Möglichkeiten machen Treffen zu einer Art Vorstellungsgespräch, für beide Seiten.

Markus schaut immer wieder auf meine Lippen. Merkt er nicht, dass ich es merke? Ich bin irritiert, versuche es mir aber nicht anmerken zu lassen. Nach knappen sechs Stunden Deep-talk, philosophischen Diskussionen, Wein und Sushi mache ich mich auf den Weg. Hier stehe ich nun. Verlegenheit. Wie sollen wir uns verabschieden? Peinlich mit Corona-Faust oder Augenzwinkern? Ein Kuss? Nichts von alldem. Vielleicht überlege ich zu viel wegen Corona. Oder hat es gar nichts damit zu tun? In ein paar Wochen wird es klar sein, falls wir uns wiedersehen. Ich öffne die Tür zur Straße und gehe nach draußen, zurück in den Winter. (Anna-Marleen Marchetti, 29.1.2021)