Chomsky: "Die Bedrohung durch einen Atomkrieg hat in den letzten Jahren stark zugenommen."

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Laut Chomsky könnte Donald Trump eine Schattenregierung führen.

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Chomsky glaubt nicht, dass es Joe Biden gelingen wird, das Land zu einen.

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STANDARD: Donald Trump ist nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten. Wie fühlt sich das an?

Noam Chomsky: Es fühlt sich gut an, diesen bösartigen Tumor los zu sein, der uns hätte zerstören können. Weitere vier Jahre Trump hätten uns vielleicht zu einem irreversiblen Kipppunkt gebracht. Die Trump-Regierung war die gefährlichste Regierung der Weltgeschichte.

STANDARD: Gefährlicher als Hitler?

Chomsky: Hitler war furchtbar, keine Frage. Er verkörperte vielleicht den tiefsten Punkt, an den die Menschheit jemals gesunken ist. Aber hat Hitler daran gearbeitet, die Möglichkeiten für menschliches Leben auf der Erde zu zerstören? Trump hat es getan!

Es gibt keine andere politische Figur in der Geschichte, die ihre Hauptanstrengungen dem Versuch gewidmet hat, die Aussichten für menschliches Leben auf der Erde zu zerstören. Nicht Dschingis Khan, nicht Attila der Hunne – niemand, der mir einfällt. Trump war einzigartig. Er hat sehr hart daran gearbeitet, die Nutzung fossiler Brennstoffe zu maximieren und die Regulierungen zu beseitigen, die ihre Auswirkungen etwas abgemildert haben. Es war ein Wettlauf in die Katastrophe. Und die Trump-Regierung wusste genau, was sie tat. Das ist doch Irrsinn!

STANDARD: Trump hat sich wohl nicht um die Konsequenzen seiner Politik gekümmert. Aber war es sein Ziel, die Menschheit auszulöschen?

Chomsky: Ich glaube, dass es ihm egal war. Er wusste, was geschehen würde. Wir haben nur noch wenig Zeit, um die globale Erwärmung einzugrenzen. Vier Jahre, die die Krise beschleunigt haben, sind ein nie dagewesenes Verbrechen.

STANDARD: Wird mit dem neuen Präsidenten Joe Biden jetzt alles gut?

Chomsky: Bidens erste Schritte sind ermutigend. Aber es gibt viele Probleme, die zu bewältigen sind – und seine eigenen Programme reichen bei weitem nicht aus, um mit den beiden wichtigsten Problemen fertigzuwerden, die das Überleben unserer Spezies gefährden können: die wachsende Bedrohung durch einen Atomkrieg und die Umweltkatastrophe.

Im Grunde genommen ist alles andere unwichtig, wenn diese Probleme nicht angegangen werden. Und sie müssen bald in Angriff genommen werden. Die Bedrohung durch einen Atomkrieg hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Deshalb ist die Doomsday Clock, die Weltuntergangsuhr des Bulletin of the Atomic Scientists, jedes Jahr näher an Mitternacht gerückt.

STANDARD: Was hat einen Atomkrieg wahrscheinlicher gemacht?

Chomsky: Es gab ein Rüstungskontrollregime, das über fast 60 Jahre mühsam aufgebaut wurde. Aber Trump hat es demontiert. Es ist fast vollständig weg! Darüber hinaus haben Trump und andere Initiativen zur Entwicklung neuer und weitaus gefährlicherer Atomwaffen gestartet. Kombiniert mit provokativen Aktionen in vielen Teilen der Welt und einer Reihe von ungerechtfertigten Angriffen auf den Iran – Attentate, Sabotage, Cyberkrieg, Sanktionen –, hat dies die Gefahr eines Atomkriegs stark erhöht.

STANDARD: Ist die Welt nach Trump wieder sicherer geworden?

Chomsky: Sie ist wahrscheinlich ein bisschen sicherer geworden, denn Trump war unberechenbar. Es wäre doch möglich gewesen, dass er in einem Anfall von psychotischer Angst plötzlich sagt: "Okay, ich mache es!" Ich bin sicher, dass die oberste Militärführung sehr erleichtert ist, dass die Situation jetzt berechenbarer ist.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Republikaner in der Lage sein werden, sich nach Trump neu zu erfinden?

Chomsky: Die Partei ist jetzt sehr zerrissen. Das eine ist die Wählerbasis, die größtenteils von Trump kontrolliert wird. Seine Unterstützung bei der Basis ist nach dem 6. Jänner (Sturm aufs Kapitol, Anm.) sogar noch gestiegen. Er kontrolliert diesen Teil der Partei. Dann gibt es den anderen Teil: die Spenderklasse, die Wohlhabenden. Sie mochten Trump nicht – aber sie waren bereit, ihn zu tolerieren, solange er ihre Taschen ordentlich voll machte.

Aber der 6. Jänner war zu viel, sie sagten ihm: Es ist vorbei! Auch im Senat tat sich etwas. Einige führende Republikaner begannen abzudriften, als einflussreiche Spender sich von Trump distanzierten. Mitch McConnell (Minderheitsführer im Senat, Anm.) muss sich jetzt entscheiden: Geht er auf die Wählerbasis ein oder auf die hohen Tiere, denen er dient und die ihn finanzieren? So einfach ist das! Es ist noch unklar, wie die Partei damit umgehen wird.

STANDARD: Was wird aus Trump?

Chomsky: Trump könnte eine Art alternative Schattenregierung errichten. Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Er wird sich als der legitime Präsident darstellen, der von einem sehr großen Teil der republikanischen Wählerbasis unterstützt wird. Ich vermute, er wird mit McConnell zusammenarbeiten, der ein Genie darin ist, das Land unregierbar zu machen. Die Republikaner wollen die so entstehenden Probleme den Demokraten anlasten, um so wieder an die Macht zu kommen. Das ist ein schlechter Traum, aber es ist kein unmöglicher Albtraum. Es ist ein sehr denkbares Szenario.

STANDARD: Könnte ein Amtsenthebungsverfahren dies nicht verhindern?

Chomsky: Ich schätze die Erfolgsaussichten für ein Impeachment nicht besonders hoch ein. Und das Einzige, was ein abgeschlossenes Impeachment erreichen würde, wäre, dass Trump keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden dürfte. Das ist zwar immerhin etwas – aber wenn es nicht Trump sein wird, dann wird es jemand sein, der so ähnlich wie Trump ist.

STANDARD: Wird es Biden gelingen, das Land wieder zu vereinen?

Chomsky: Ich wünsche es mir, aber ich kann keine Anzeichen dafür erkennen. Die Republikaner sind heutzutage so extrem. Es gab eine Zeit, da gab es gemäßigte Republikaner. Aber dieser Teil der Partei ist fast verschwunden. Vor Biden hat der Demokrat Barack Obama versucht, das Land zu vereinen, zu versöhnen, aber er ist damit vollständig gescheitert. Wahrscheinlich wird auch Biden scheitern, weil die Republikaner keine Versöhnung wollen. Sie wollen an die Macht.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Rebellion oder Untergang" beschreiben Sie die Erosion der Demokratie als die dritte große Gefahr für die Menschheit. Welche Rolle spielt Trump dabei?

Chomsky: Erosion der Demokratie klingt zunächst nicht so gefährlich wie die Gefahr eines Atomkriegs oder die Umweltkatastrophe. Aber sie ist gefährlich, denn nur eine lebendige Demokratie kann mit den ersten beiden Problemen klarkommen. Aber Trump hat die Regierung entkernt und in ein persönliches Lehen verwandelt. Früher war die Regierung ein funktionierendes System mit verschiedenen Stimmen. Aber Trump hat sie in einen unfassbaren Sumpf der Korruption verwandelt.

Das extremste Beispiel haben wir gerade gesehen. Er hat die Wahl nicht akzeptiert, weil er sie nicht gewonnen hat. Welche extremere Aushöhlung der Demokratie kann es geben? Er hat die Wählerbasis mitgerissen. Eine Mehrheit der republikanischen Wähler glaubt, dass die Wahl gestohlen wurde, weil Trump das gesagt hat. Das sind alles Symptome des Faschismus.

STANDARD: In "Rebellion oder Untergang" rufen Sie zu zivilem Ungehorsam auf. Als Trumps Unterstützer zum Kapitol marschierten, sprachen sie auch von zivilem Ungehorsam ...

Chomsky: Das war kein ziviler Ungehorsam, das war ein Putschversuch! Eine gewählte Regierung zu stürzen und durch eine andere zu ersetzen ist ein Putsch. Und das ist es, was sie versucht haben. Es war nicht die Art von Putsch, die wir aus den von den USA geführten Bananenrepubliken kennen. Es war nicht so gewalttätig und brutal. Das Militär kam nicht herein und setzte eine andere Regierung ein. Es war nicht die Art von Putsch, die wir überall auf der Welt unterstützen. Aber es war ein Putschversuch. Viele Historiker, die im Bereich Faschismus forschen, vergleichen den Sturm auf das Kapitol mit dem Hitler-Putschversuch von 1923. Trump hat versucht, den Putsch anzuzetteln.

STANDARD: Trotz der Gefahr eines Atomkriegs und der globalen Erwärmung: Derzeit haben die meisten Menschen mehr Angst vor dem Coronavirus. Wie gefährlich ist die Pandemie?

Chomsky: Der US-Bundesstaat Arizona hat gerade einen Titel gewonnen: Weltmeister in Corona-Fällen pro Kopf. Arizona ist Teil des reichsten Landes der Welt, doch mit der Pandemie kommt man nicht klar. Ich bin 92 Jahre alt, und ich habe keine Ahnung, wann ich endlich meine Impfung bekommen kann. Ich stehe auf einer Liste. Aber jedes Mal, wenn ich anrufe, sagen sie: "Warten Sie, bis wir Sie anrufen, okay?"

Es gibt tiefgreifende Gründe, warum das reichste Land der Welt so schlecht mit der Pandemie zurechtkommt. In seinen ersten Amtstagen 2009 rief Obama den Presidential Scientific Advisory Council zusammen. Er bat Wissenschafter, ein Programm zur Bekämpfung von Pandemien zu erstellen. Sie arbeiteten ein Programm aus, das bis Jänner 2017, bis zum Amtsantritt Trumps, umgesetzt wurde. Trumps erste Handlung war es, das gesamte Programm zu demontieren. Jedes Jahr strich er das Budget des Center for Disease Control zusammen. Sogar nachdem die Pandemie im Februar 2020 begonnen hatte! Es gab Programme von amerikanischen Wissenschaftern, die mit chinesischen Kollegen zusammenarbeiteten, um Coronaviren zu identifizieren. Trump hat sie aber gestrichen.

STANDARD: Macht es Europa besser?

Chomsky: Europa hatte die erste Welle ziemlich gut unter Kontrolle. Dann entschieden die Europäer: Ich will meinen Urlaub, ich will an den Strand. Sie hatten ihren Urlaub, und die Zahlen stiegen steil an. So ist das mit der Verantwortungslosigkeit! Es liegt nicht nur an den Institutionen. Mangelnde kollektive Rücksichtnahme und fehlende Solidarität führen zur Katastrophe.

STANDARD: Nach Ihrer Analyse sind wir dem Weltuntergang sehr nahe. Haben Sie die Hoffnung aufgegeben?

Chomsky: Nein, ich gebe die Hoffnung nie auf! Im vergangenen Jänner waren wir nach der Einschätzung des Bulletin of Atomic Scientists noch 100 Sekunden vom Weltuntergang entfernt. Ich vermute, dass er dieses Jahr wahrscheinlich auf zwei Minuten zurückgeht, weil Trump weg ist. Ein Zurückdrehen der Weltuntergangsuhr ist möglich. (Philipp Hedemann, 25.1.2021)