Er ist ein Model, und er sieht gut aus. Désiré Quadjo Mia, 21 Jahre alt, 1,90 Meter groß, hat für Calvin Klein, Tommy Hilfiger, Hugo Boss, Tom Ford gearbeitet, für das angesagte französische Label Jacquemus ist er sogar in Südfrankreich am Strand über einen Laufsteg gelaufen.

Désiré Quadjo Mia kann aber noch mehr. Der Deutsche ist, typisch Generation Z, schon seine eigene kleine Marke. Auf Instagram hat er mehr als 342.000 Follower, auf Tiktok folgen ihm fast 762.000 Menschen. Dort lädt er seit 2019 kurze Videos hoch: Mal sieht man ihn frühmorgens zu einem Modeljob aufbrechen, ein andermal zeigt er verschiedene Outfits an einer S-Bahn-Station, Hashtag #mycalvins. Auf beiden Plattformen arbeitet er mit Modeunternehmen wie Calvin Klein oder About You zusammen, auch damit verdient er Geld, auf Instagram ein bisschen mehr.

Erst war der Modeljob, dann kam die Social-Media-Karriere: der 21-jährige Tiktoker Désiré Quadjo Mia.
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Direktes Casting via Tiktok

Der 21-Jährige, aufgewachsen in Hannover, seine Mutter kommt aus Deutschland, sein Vater wurde in Côte d’Ivoire geboren, kommt gut an. Auf Tiktok vergleichen ihn seine Fans schon mit Simon Basset, der männlichen Hauptfigur aus der Netflix-Serie Bridgerton. Auch auf Instagram läuft’s. Unlängst hat das Model da neue Bilder von sich veröffentlicht, aus der Frühjahrskampagne des Unternehmens MCM: 36.000 Likes gab es dafür.

Das bekommt die Marke auf ihrem eigenen Account nicht hin. Désiré Quadjo Mia weiß sich in der Social-Media-Welt zu bewegen. Wenn man mit ihm Kontakt aufnehmen will, dann erreicht man ihn aber immer noch am besten über seine Modelagentur. Die sitzt in New York. "Coolerweise habe ich mich in der Modebranche auch ohne meine Plattformen etabliert", erklärt Désiré, der mit dem Modeln noch bei einer Hamburger Agentur begonnen hat.

Das ist eine Erwähnung wert, weil zunehmend direkt über die Videoplattform Tiktok gecastet wird. Models mit einer treuen Social-Media-Anhängerschaft sind heiß begehrt. "Groß ins Modelgeschäft einsteigen? Starte einen Tiktok-Account", schrieb unlängst das Magazin GQ.

Die Modeindustrie, die bislang auf Instagram setzte, hat erkannt: Hier lässt sich eine junge Zielgruppe erreichen, und das weltweit. 69 Prozent der aktiven Nutzer sind zwischen 16 und 24 Jahre alt. Unter Werbern gelte Tiktok als "Einflugschneise zur jungen Zielgruppe", schrieb das Handelsblatt.

Erfolg mit einer guten Idee

Jene lädt längst nicht mehr nur reine Tanz-, Lipsync- und Katzenvideos hoch. Die Generation Z beschäftigt sich auch mit Mode, nur tut sie das verspielter, zugänglicher, banaler, manchmal auch witziger als auf Instagram: Auf Tiktok werden Kissen umgeschnallt ("Quarantinepillow") und T-Shirts gebatikt ("Casual Tie Die"), in "Transition-Videos" auf magische Weise Kleider gewechselt – erfolgreich ist, wer daraus eine Challenge macht und über die "For You"-Seite, das Herzstück der App, gepusht wird.

Was die User da sehen, entscheidet ein Algorithmus. Das Versprechen lautet: Mit einer guten Idee kann hier jeder Erfolg haben. Tiktok ist die erste Plattform aus China, die international funktioniert. Die 2014 gegründete Video-App Musical.ly wurde 2017 von dem chinesischen Unternehmen Bytedance aufgekauft und verschmolz 2018 mit Tiktok zu einer App.

In Zeiten des andauernden Lockdowns ist sie noch beliebter geworden. 2020 hängte Tiktok hinsichtlich der Downloads die Social-Media-App Facebook ab. Und das, obwohl Donald Trump alles daran setzte, die App aus den USA zu verbannen, und Datenschützer weiterhin Bedenken äußern: Die App sammle und gebe Daten seiner Nutzer weiter, übertrage sie ins Ausland, etwa nach China.

Umdenken

Das hält die Modemarken nicht auf. Nach und nach schlagen sie auf der Plattform auf. Allerdings müssen viele umdenken. "Die Luxusmarken müssen sich auf Tiktok von der Detailverliebtheit und dem Perfektionismus, den sie von Instagram kennen, verabschieden", meint Vanessa Losch von The People Agency. 2018 hat Losch ihre Agentur gegründet, seither bringt sie Influencer (auf Tiktok werden sie "Content Creator" genannt) mit Marken aus dem Lifestyle-Segment zusammen. Auch sie beobachtet, dass die Videoplattform im vergangenen Jahr für die Modeindustrie an Bedeutung gewonnen hat.

Tatsächlich haben im Jahr 2020 viele Luxusfirmen, darunter Louis Vuitton, Fendi, Stella McCartney, einen Tiktok-Account gestartet. Nicht immer geht die Rechnung sofort auf. "Viele Luxusmarken tun sich mit der jungen Zielgruppe auf Tiktok schwer", meinen Branko Markovic und Florian Bösenkopf von der Wiener Agentur Influence Vision.

Zwar werde Unternehmen auf der Plattform eine hohe Reichweite zu vergleichsweise günstigen Konditionen geboten, "allerdings sind die Inhalte nicht so kontrollierbar. Viele Marken wollen sich aber die Mitsprache nicht nehmen lassen."

Neue Herausforderungen

Elf Jahre nach der Erfindung von Instagram verursacht Tiktok das zweite große Social-Media-Beben. 2010 veränderte die bildlastige Plattform die Art und Weise, wie Mode gesehen wird: Seit jeder sein eigener Medienkanal sein kann, werden Modenschauen und Events via Instagram in der Sekunde in die Welt getragen.

Die Mode wurde plakativer, die elitären Rituale der Branche schienen plötzlich überkommen, "Influencer" wurde zum Jobtitel. Nun stellt Tiktok die von der Corona-Krise gebeutelte Branche vor neue Herausforderungen: Mode soll möglichst unterhaltsam, möglichst authentisch, bloß nicht zu perfekt in 15- bis 60-Sekunden-Videos erzählt werden. Das fällt der Generation Z derzeit leichter als den Älteren.

Die Wunderwaffe

Die naheliegende Lösung für viele Marken: Sie tun sich mit Tiktok-Stars zusammen. Teenager und Twentysomethings gelten als Schmiermittel zur jungen Zielgruppe, als Wunderwaffe in haarigen Zeiten.

Fendi zum Beispiel verpflichtete anlässlich des Starts auf der Plattform die US-amerikanische Disney-Schauspielerin Sabrina Carpenter, auf Tiktok hat sie 6,4 Millionen Follower.

Disney-Star Sabrina Carpenter hat auf Tiktok 6,4 Millionen Fans. Die Marke Fendi engagierte sie anlässlich des Launches ihres Tiktok-Accounts.
Foto: Fendi

Celine-Designer Hedi Slimane, der seine hageren Männermodels um die Jahrtausendwende noch auf der Straße oder in Clubs castete, engagierte im Dezember 2019 einen Tiktok-Star: Der US-Amerikaner Noen Eubanks gilt als androgyner "E-Boy", er färbt seine blondierten Haare gerne an den Spitzen schlumpfblau oder rosa, auf der Videoplattform ist er mit heute 11 Millionen Followern ein internationaler Star.

Für Celine posierte er auf Kampagnenbildern wie ein Model. Doch nicht nur das. Slimane ließ sich für seine Frühjahrskollektion 2021 vom Stil der "E-Boys" auf Tiktok inspirieren und engagierte Luv Anthony und Chase Hudson, die kurze Clips produzierten. Über die Kanäle der Tiktok-Stars finden die Marken Zugang zu den Jungen. Das schlägt sich aber nicht zwingend in den Followerzahlen des Firmen-Accounts nieder. Dem Unternehmen Celine folgen bislang überschaubare 64.000 Personen.

Tanzender Teenager

Das sind Peanuts im Vergleich zu tanzenden Teenagern wie Charli D’Amelio. Die 16-jährige US-Amerikanerin ist mit 107 Millionen Followern die reichweitenstärkste Influencerin der Videoplattform. Mittlerweile wird sie auch von Modeunternehmen engagiert.

Prada lud den Teenager im Frühjahr 2020 zur Modenschau. D’Amelio flog zum ersten Mal in ihrem Leben nach Mailand, drehte mit ein paar Models ein Tanzvideo in der Fondazione Prada und einer Umkleidekabine des Labels: "Amazing!"

Charli D’Amelio, die Queen of Tiktok, wurde von Moncler engagiert.
Foto: Moncler

Im vergangenen Dezember ging das Daunenjackenimperium Moncler mit D’Amelio auf Tuchfühlung. Sie wurde für eine Challenge verpflichtet. D’Amelios Job: Sie lud im Dezember 2020 unter dem Hashtag #monclerbubbleup ein Video hoch. Darin posierte sie erst mit einer Bettdecke, dann in einer Moncler-Jacke. Viele Fans taten es ihr nach. So einfach kann Geldverdienen sein!

Vier Millionen US-Dollar hat Charli D’Amelio zwischen Juni 2019 und 2020 eingenommen. Ein Zufall ist das nicht. Marc und Heidi D’Amelio aus Connecticut, die ambitionierten Eltern der tanzenden Tiktokerin und ihrer ebenfalls erfolgreichen Schwester Dixie, haben in rasantem Tempo ein Familienunternehmen aufgebaut. Wenn das so weitergeht, dürften sie zu den Kardashians der Generation Tiktok werden.

One-Man-Show

Désiré Quadjo Mia’s Unternehmung ist hingegen eine One-Man-Show. Zwei bis vier Stunden arbeitet er durchschnittlich an einem Video. Tiktok basiere auf wechselnden, neuen Trends, ganz einfach, erklärt der 21-Jährige. Springe man regelmäßig mit kreativen Videos auf sie auf, sei es nicht allzu schwer, sich eine "Followerschaft" aufzubauen.

Wenn es wirklich so einfach wäre. Die spannendsten Ideen auf der Plattform kommen nicht aus den Marketingabteilungen der Unternehmen. So gilt zum Beispiel nicht das Label Gucci, sondern die 21-jährige Tiktokerin Morgan Presley als Erfinderin der #GucciModelChallenge.

Die User sollten die skurrilen Looks des Modehauses nachstylen. Gucci konnte so seine Reichweite auf der App immens steigern. Bezahlt wurde Presley dafür nicht. (Anne Feldkamp, RONDO, 31.1.2021)