Große Prüfungen ohne Präsenz stellen Studierende, Lehrende und Unis vor neue organisatorische Herausforderungen

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Diese Woche geht an den Universitäten das zweite Semester unter Corona-Bedingungen zu Ende. Es wird nicht das letzte sein, die Unis werden wohl bis in den Sommer weitgehend im Fernunterricht bleiben. Eine spezielle Herausforderung stellt derzeit die Abhaltung von Prüfungen dar: Ein enges Zusammensitzen in Hörsälen ist angesichts des Infektionsgeschehens tabu, für Einzelprüfungen reichen die Kapazitäten nicht aus, und doch muss die Leistung der Studierenden halbwegs objektiv beurteilt werden.

In geisteswissenschaftlichen Disziplinen setzten die Lehrenden bisweilen auf kleinere Abschlussarbeiten: Die Studierenden bekommen Leitfragen vorgegeben und haben zu Hause einige Stunden Zeit, den gelernten Stoff in einem selbstständigen Essay zu reflektieren. Eine Überwachung erübrigt sich, weil man Vorlesungsunterlagen und Literatur von vornherein verwenden darf.

Verhaltensmaßregeln für Videoprüfungen

In technischen und naturwissenschaftlichen Fächern fällt die Umstellung schwerer, viele Professorinnen und Professoren versuchen die gewohnten Prüfungsstruktur in den Onlinemodus zu übertragen und die Tests per Videokonferenz durchzuführen. Die Regeln, denen die Studierenden dabei unterworfen werden, reichen allerdings zum Teil von unrealistisch bis skurril.

Dem STANDARD wurden einige Verhaltensvorschriften aus Lehrveranstaltungen der Technischen Universität (TU) Wien übermittelt, die von der Idee einer lückenlosen Überwachung studentischer Wohnzimmer inspiriert scheinen. Jede Regung der Prüflinge soll sichtbar, hörbar und jederzeit kontrollierbar sein. Damit das gelingt, werden die verpflichtenden Vorkehrungen in seitenlangen A4-Leitfäden en détail festgeschrieben:

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Der Abstand der Webcam, die Schreibtischposition im Zimmer und die Entfernung des Druckers werden normiert:

Der korrekte Aufbau der Gerätschaften hängt davon ab, ob man Links- oder Rechtshänder ist:

Oberkörper, Kopf, Hände sowie Tastatur und Maus müssen stets im Bild sein:

Auf Verlangen des Prüfers kann ein Kameraschwenk durch das Zuhause nötig werden:

Auch zu den zulässigen Trinkbehältnissen und Erfrischungsgetränken gibt es eindeutige Vorstellungen von TU-Lehrenden:

Zudem werden präventive Maßnahmen gegen die Schummelei mittels des Verpackungspapiers von Müsliriegeln getroffen:

Besonders heikel ist allerdings, dass Videoprüfungen nicht nur live überwacht, sondern auch aufgezeichnet werden. Vor der Teilnahme sollen die Studierenden eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, in der sie sich mit der Aufzeichnung einverstanden zeigen:

Die Hochschulvertretung der TU (HTU) berichtet, dass die Aufzeichnung bei manchen Prüfungen sogar als Voraussetzung für die Teilnahme deklariert werde. Sprich: Wer die Filmerlaubnis nicht unterschreibt, darf nicht zur Prüfung antreten. Das stelle einen "massiven Eingriff in die Privatsphäre dar" und berge Datenschutzprobleme, kritisieren die HTU-Vertreter.

Einwilligung darf keine Pflicht sein

Der Vizerektor der TU, Kurt Matyas, kennt die Beschwerden – er hat auch einen anonymen Briefkasten zum Onlinebetrieb eingerichtet, über den man Missstände aufzeigen kann. Matyas betont: "Eine Einwilligung zur Aufzeichnung darf nicht als Bedingung zur Teilnahme herangezogen werden." Er kenne zwar selbst Fälle von vergangenem Monat, in denen Lehrende das so handhaben wollten, doch die TU-Studienrechtsabteilung habe mittlerweile klargestellt, dass eine Aufzeichnung keine Teilnahmebedingung sein darf. "Ich hoffe, dass das nicht mehr vorkommt, wir haben dies auch allen Lehrenden kommuniziert", sagt der Vizerektor. Sofern alle Studierenden einer Aufzeichnung zustimmen, werde der Film bis zwei Wochen nach der Beurteilung – also insgesamt maximal sechs Wochen – auf TU-Servern aufbewahrt. Das solle allen Seiten helfen, etwaige Diskussionen über eine Beurteilung aufzuklären, danach werde der Mitschnitt der Prüfung vernichtet.

Der TU sei es in Reaktion auf den zweiten Lockdown im November darum gegangen, den Prüfungsbetrieb rasch auf Onlineformate umzustellen und Prüfungen nicht auf die Zeit nach dem Lockdown zu verschieben: "Mir war es wichtig, den TU-Studierenden trotz Pandemie die geplanten Antritte zu ermöglichen – auch auf die Gefahr hin, dass wir uns Kritikpunkte einhandeln." Die Uni-Leitung sei stets offen für die Einwände der Betroffenen und arbeite laufend an Verbesserungen. In technischen Fächern, in denen man mit Stiften zeichnen und auf Papier rechnen müsse, sei die schriftliche Prüfung per Videokonferenz aber oftmals die einfachste Methode, sagt Matyas.

Stabiles Internet gefordert

Doch was passiert, wenn jemand bei der Prüfung aus der Onlinekonferenz fliegt, weil zu Hause das Internet kollabiert? Bei großer Teilnehmerzahl ist das ja eher die Regel als die Ausnahme, wie etwa die täglichen STANDARD-Redaktionssitzungen aus dem Homeoffice belegen.

Klare Regelungen für Ausfälle bei Prüfungen gibt es nicht, den Studierenden wird allerdings aufgetragen, für eine stabile Internetverbindung "zu sorgen". Eine Erfordernis, die schwer zu garantieren ist und zusätzlichen Stress bedeutet, wie Studierende anmerken.

Vizerektor Matyas räumt ein, dass man in der Kommunikation stärker auf die technischen Gegebenheiten der Studierenden Rücksicht nehmen müsse, um Druck herauszunehmen. Mögliche Konsequenzen einer Internetstörung hingen im Einzelfall wohl von deren Dauer ab. Die Prüfer könnten etwa danach eine mündliche Online-Feststellungsprüfung ansetzen, um einen Schummelverdacht abzuklären. Und wem daheim die geeigneten Geräte fehlen, der könne auch an die TU kommen, um die Videoprüfungen in dortigen PC-Räumen zu bestreiten.

Die Hochschulvertretung begrüßt zwar die Bemühungen des Rektorats. Allerdings würden manche Lehrerende auf stur schalten und weiter "ihr eigenes Süppchen kochen", schreibt die HTU in einer Aussendung. Die Situation stelle mittlerweile eine enorme psychische Belastung dar. (Theo Anders, 27.1.2020)