Auf der Intensivstation des Wiener Allgemeinen Krankenhauses starb am 6. April 2018 Herr "Willy" – da seine Partnerin dem Sterbenden lebensnotwendige Schläuche heraus riss.

Foto: Heribert Corn

Wien – Beim Mordprozess gegen Renate E. vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Andreas Böhm geht es um die Frage, wie es rechtlich zu beurteilen ist, wenn man einen Sterbenden tötet. Denn die 54-jährige Pensionistin riss am 6. April 2018 auf der Intensivstation des Wiener Allgemeinen Krankenhauses lebenserhaltende Schläuche aus dem Körper ihres 70-jährigen Lebensgefährten – der einige Stunden später ohnehin gestorben wäre, da die Ärzte die Behandlung eingestellt hatten.

Für Staatsanwalt Martin Ortner ist der Vorfall dennoch ganz eindeutig Mord. Als solcher war er bereits im Oktober 2019 von einem anderen Schwurgericht verurteilt worden. E. erhielt damals drei Jahre Gefängnis, eines davon unbedingt. Doch der Oberste Gerichtshof hatte mit dieser Entscheidung ein Problem: Die Berufsrichten hatten ihren Laienkollegen de facto nur die Entscheidung zwischen Mord und Tötung auf Verlangen gelassen – der ebenso milder als Mord bestrafte Totschlag fand sich im Fragenkatalog an die Geschworenen nicht. Das Verfahren muss also ein zweites Mal stattfinden.

Keine Sterbehilfe, kein Totschlag

Auch diesmal bleibt der Ankläger dabei: Es sei Mord gewesen. Tötung auf Verlangen, vulgo Sterbehilfe, sei es definitiv nicht gewesen, da der Patient zum Zeitpunkt des Todes schon vier Tage im Koma gelegen sei. E. habe also gar nicht wissen können, ob ihr Partner tatsächlich sterben wollte. Aber auch Totschlag kommt für den Staatsanwalt nicht in Betracht: Die "allgemein begreifliche heftige Gemütserregung", die zur Tat führt, sieht Ortner in diesem Fall nicht.

Ganz anders die unbescholtene Angeklagte und ihr Verteidiger Gunther Gahleitner. "Ich bekenne mich schuldig der Sterbehilfe", erklärt E. ruhig. 2011 habe sie den "Willi" kennengelernt, man sei zusammengezogen. Als es ihm gesundheitlich immer schlechter gegangen und er auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen sei, sei er in ein Heim gekommen. Immer wieder habe man wechselseitig vereinbart, "den Stecker zu ziehen", falls ein langes Siechtum ohne Bewusstsein drohen würde.

Das letzte Mal habe sie mit ihrem Partner am 28. März darüber gesprochen. "Hasi, erinnere dich daran, was wir uns versprochen haben, und erlöse mich", seien seine Worte gewesen, beteuert sie. Er wurde wegen Nierenversagens Ende März 2018 ins Krankenhaus gebracht, dann kam eine Lungenentzündung dazu, auf deren Therapie er nicht mehr ansprach.

Patient war austherapiert

Es folgten Intensivstation, Koma und schließlich die Entscheidung der Ärzte, dass der Patient austherapiert sei und man ihm lediglich noch Schmerz- und Schlafmittel einflöße, um ihm ein würdevolles Einschlafen und den Angehörigen den Abschied zu ermöglichen.

E. wurde am Nachmittag des 6. April als Notfallkontakt angerufen und fuhr mit dem Wahlneffen des Patienten über die Donau ins AKH – nicht ohne noch einen Zwischenstopp bei einer Tankstelle einzulegen: Vier kleine Flaschen Wodka für sich und drei oder vier Bier für den Wahlneffen kaufte die Angeklagte.

Vorsitzender Böhm kann das nicht nachvollziehen: "Warum betrinken Sie sich?", will er von der Angeklagten wissen. "Ich war komplett aus dem Häuschen!", lautet die Begründung. Auch auf den Wahlneffen scheint das zugetroffen zu haben – er trank eines seiner Biere neben dem Intensivbett, bis es ihm die Stationsärztin untersagte. E. kaufte im Spital sogar noch Nachschub: Im Supermarkt erwarb sie eine 0,7-Liter-Flasche Wodka, während sie auf eine weitere Bekannte des Patienten wartete.

"Das Sterben verkürzt"

Etwa zu diesem Zeitpunkt habe sie den Entschluss gefasst, "Willy" zu töten, erzählt E. dem Gericht. "Ich habe es nicht für mich gemacht, sondern für ihn", beteuert sie. Und bei anderer Gelegenheit: "Ich habe ihm das Sterben verkürzt, das haben wir ausgemacht!" Der Vorsitzende hat in diesem Zusammenhang aber eine Frage: "Warum haben Sie keinen Stecker gezogen?" Denn E. unterbrach nicht die Stromzufuhr der Maschinen, sondern riss den Dialysekatheder aus dem Hals des Sterben und den Beatmungsschlauch aus seinem Mund. "Auf meiner Seite des Bettes war keine Steckdose", erklärt die Angeklagte.

Nachdem die Maschinen Alarm schlugen, kamen das Pflegepersonal und die diensthabende Ärztin und schickten E., die noch immer die Schläuche in der Hand hielt, hinaus. Diese verließ das AKH und fuhr mit dem Taxi heim, wo sie gegen 22.30 Uhr von der Polizei festgenommen wurde. Am nächsten Tag nahm man ihr Blut ab und stellte einen Alkoholwert von 0,2 Promille fest.

Zwischen 1,86 und 3,5 Promille

Wie Gerichtssachverständiger Peter Hofmann den Geschworenen erklärt, kann man für den Promillewert zum Tatzeitpunkt nur eine Schwankungsbreite angeben, je nachdem, wie schnell der Abbauprozess vor sich geht. Hofmann errechnete einen Pegel zwischen mindestens 1,86 und höchstens 3,5 Promille. Allerdings – man wisse nicht, ob Frau E. nicht nach dem Verlassen des Krankenhauses weitergetrunken habe, schränkt er ein. Er verweist aber auf die Zeugenaussagen, wonach niemand im Spital einen Vollrausch bei E. bemerkt hat.

Hofmann schließt auch noch etwas anderes aus: eine Affekthandlung, also Totschlag. Denn zumindest nach der Darstellung der Angeklagten sei zwischen dem Entschluss, den Partner zu "erlösen", wie sie es nennt, und der tatsächlichen Handlung einige Zeit vergangen. Das spreche gegen ein impulsives Handeln. Und: "Bei Affekttätern ist normalerweise nach der Tat die Energie weg. Frau E. hat ja auf die Anweisung des Personals reagiert, fand aus dem AKH – das ist ja auch nicht ohne – und nahm ein Taxi", sieht er durchaus zielgerichtetes Verhalten.

Der als Zeuge auftretende Wahlneffe zeichnet ein etwas anderes Bild der Beziehung. E. habe "den Willy" nach einem Streit aus ihrer Wohnung geschmissen, zwei Jahre habe er bei ihm in einer Einzimmerwohnung gelebt. Erst als sein Wahlonkel einen Rollstuhl benötigte, habe man sich um einen Heimplatz gekümmert. Kontakt habe die Angeklagte aber weiter zu "Willy" gehalten und ihn auch regelmäßig besucht, wenn er im Krankenhaus war.

Floridsdorfer Redensart

Von einem Sterbewunsch habe er von dem Patienten aber nie etwas gehört. Im Gegenteil: "Es hat ja schon vorher dreimal schlecht ausgeschaut", erinnert er sich. "Und er ist immer zurückgekommen. Das wäre diesmal auch so gewesen", ist er überzeugt. Verteidiger Gahleitner hält dem Zeugen vor, dass er im ersten Prozess sehr wohl von einem Gespräch berichtet hat, in dem "Willy" sagte: "Schieß mir eine Kugel in den Kopf, bevor ich jahrelang daliege." Heute relativiert der Zeuge das: "Das ist eine Redensart unter Floridsdorfern. Das war nicht ernst gemeint", sagt er.

In den Schlussplädoyers wird bei den Laienrichtern noch einmal für den jeweiligen Standpunkt geworben. Staatsanwalt Ortner verdeutlicht noch einmal, dass es in diesem Fall nicht um Sterbehilfe gehe. Denn auch wenn die Medien nicht darüber berichten würden (was hiermit widerlegt ist): Die Lebensverlängerung um jeden Preis sei in den Spitälern schon längst nicht mehr "lege artis", das habe auch der Sachverständige für Intensivmedizin dargelegt. Man habe im AKH ja die Behandlung bereits beendet gehabt. Aber es könne nicht angehen, vor dem Eintritt des Ernstfalls quasi eine Generalvollmacht zu erteilen, die dann nach Belieben umgesetzt werden könne.

Strafe maximal drei Jahre teilbedingt

Außerdem nimmt der Ankläger einen Teil der Last von den Geschworenenschultern: Da er gegen die drei Jahre teilbedingt im ersten Prozess keine Berufung eingelegt habe, könne auch heute das Urteil nicht strenger werden. Die Laienrichter müssten sich also alleine auf die Rechtsfrage konzentrieren, wie die Tötung juristisch zu bewerten sei. Er prophezeit sogar, dass E., die mittlerweile selbst schwer erkrankt ist, nie ins Gefängnis müsse: Sie könne entweder eine Fußfessel beantragen oder sei möglicherweise ohnehin haftunfähig.

Verteidiger Gahleitner, dem das Gericht wegen eines negativen Covid-Tests so wie dem Staatsanwalt das Tragen eines gewöhnlichen Mund-Nasen-Schutzes statt einer FFP2-Maske gestattet hat, schiebt zum Missfallen des Vorsitzenden auch diesen immer wieder aus seinem Gesicht. So auch bei seinen Schlussworten, die er aus unerfindlichen Gründen unbedingt ohne Mikrofon an die Geschworenen richtet. Durch die bescheidene Akustik im Großen Schwurgerichtssaal ist daher nicht alles zu verstehen, die Strategie läuft aber darauf hinaus, dass es nur Tötung auf Verlangen oder Totschlag gewesen sein könne. Seine Mandantin wolle nicht mit dem Makel der Mörderin herumlaufen müssen.

Die Geschworenen erfüllen dem Verteidiger diesen Wunsch nicht, das nicht rechtskräftige Urteil lautet wie im ersten Verfahren drei Jahre teilbedingt wegen Mordes. (Michael Möseneder, 26.1.2021)