Steigende Meerestemperaturen stören die symbiotische Beziehung zwischen Korallen und Algenmitbewohnern, was schlimmstenfalls zum Absterben ganzer Riffe führt. Doch eine Genvariation könnte den Korallen Toleranz gegen die Bleiche verleihen.

Foto: Imago / Alimdi

Die Biodiversität, der Reichtum allen Lebens, erodiert in einem nie dagewesenen Tempo. In Europa hat sich die Zahl der Vögel seit 1980 halbiert, die Insektenzahlen befinden sich weltweit im Sinkflug, und die Entwaldung schreitet ungebremst fort.

Die Ursachen des großen Sterbens sind bekannt: 7,8 Milliarden Menschen brauchen Platz, Rohstoffe und Nahrung. Die Folge sind zerstörte Lebensräume, zu intensive Landnutzung, Überfischung, Umweltverschmutzung und die Klimakrise.

Um den Artenschwund zu stoppen, werden zwar regelmäßig internationale Abkommen unterschrieben. Die Erfolge sind jedoch kläglich: Von den zwanzig im Jahr 2010 bei der internationalen UN-Artenschutzkonferenz von Nagoya verabschiedeten Zielen wurden etwa nur sechs teilweise erreicht, vierzehn krachend verfehlt.

200.000 Arten

Hilfe kommt aus einer unerwarteten Richtung: der Molekularbiologie. Die Fortschritte bei der Entschlüsselung der DNA katapultieren nicht nur die Medizin, sondern auch den Artenschutz in neue Sphären.

Forscher weltweit gründen Initiativen wie das Earth BioGenome Project oder Darwin Tree of Life, um das Erbgut von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen zu entschlüsseln und zu archivieren.

Mit der Initiative European Reference Genome Atlas (ERGA) ziehen nun Europäische Forscher nach: Sie wollen das Erbgut der gesamten europäischen Flora und Fauna entschlüsseln, also mindestens 200.000 Arten, darunter bedrohte Spezies und Schlüsselarten, die für die Landwirtschaft und Fischerei eine Rolle spielen, zudem die riesige Vielfalt an Weichtieren, Insekten und Mikroorganismen. Doch wie können Erbgutdaten, also die Abfolge der vier "DNA-Bausteine" A, T, G und C, dem Artenschutz dienen?

Rechtzeitig schützen

"Bislang hinken wir dem Geschehen meist hinterher und dokumentieren das Schwinden von Arten", sagt die Biologin und Mitgründerin der Initiative Ann-Marie Waldvogel von der Universität Köln, "in Zukunft könnten wir mit Genomdaten Vorhersagen darüber treffen, wie eine Art auf sich verändernde Umweltbedingungen reagieren wird, und rechtzeitig gegensteuern."

Die Korallenbleiche etwa ist eine Stressreaktion auf höhere Meerestemperaturen, die die symbiotische Beziehung zwischen Korallen und ihren Algenmitbewohnern stört und zum Absterben ganzer Riffe führt. Forscher der Stanford-Universität in den USA identifizierten in Warmwasserkorallen Genvarianten, die ihnen möglicherweise eine Toleranz gegen das Bleichen verleihen.

In einem Evolutionsmodell mit unterschiedlichen Annahmen zum Klimawandel überprüften sie, ob auch Kaltwasserkorallen höhere Meerestemperaturen überleben würden: Steigt die Temperatur nur langsam, ermöglichen besagte Genvarianten auch Kaltwasserkorallen eine natürliche Anpassung an die höhere Temperatur. Steigt die Temperatur jedoch zu schnell, ist die Anpassung zu langsam, und die Korallenart stirbt aus.

Anpassung ist ein genetischer Prozess, der es einer Art ermöglicht, in einem sich verändernden Lebensraum zu überleben. Arten können sich aber nur dann erfolgreich und schnell genug an veränderte Umweltbedingen anpassen, wenn ihre genetische Ausstattung ausreichend divers ist – was sich aus den Erbgutdaten vieler verschiedener Individuen herauslesen lässt. "Genomdaten kann man als eine Art Frühwarnsystem verwenden, die einem die Zeit verschaffen, entsprechende Maßnahmen einzuleiten", so Waldvogel.

DNA-Probe statt Ausstopfen

"Das Genom ist die umfassendste Information, die man von einem Organismus haben kann", sagt der Molekularbiologe Manfred Schartl von der Uni Würzburg. Früher hätte man Tiere ausgestopft und in Museen ausgestellt, heute gehöre es bei jeder neu beschriebenen Art dazu, eine Probe zu hinterlegen, aus der sich DNA gewinnen ließe. Ein europäischer Genomatlas wäre demnach ein riesiges digitales Nachschlagewerk der belebten Natur.

Gemeinsam mit Kollegen hat Schartl das hochkomplexe Genom des Störs entschlüsselt. Die Genomdaten unterstützen notwendige Zuchtprogramme: zum einen für die Kaviarproduktion in Aquakultur, zum anderen aber auch für die Zucht der bedrohten Tiere zu Auswilderungszwecken.

Mittels DNA-Probe kann etwa die genetische Variabilität wieder angesiedelter Störe bestimmt werden. Sei diese vermindert, wähle man für weitere Auswilderungen Elterntiere aus, die sich genetisch möglichst stark unterscheiden. Eine bei gefährdeten Arten oft zum Einsatz kommende Methode.

Mammutaufgabe

Generell müsse man weg von den flauschigen, populären Flaggschiffarten, sagt Waldvogel: "Unsere Ökosysteme werden von tausenden Arten getragen, die wir kaum kennen. Gerade im Agrarsektor gibt es Verarmungsprozesse der Bodenlebensgemeinschaften, wir müssen uns dem dringend widmen."

Die ERGA-Initiative ist eine Mammutaufgabe und ihre Realisierbarkeit den enormen technischen Fortschritten zu verdanken. Vor 20 Jahren verschlang die Entschlüsselung des ersten menschlichen Genoms rund 100 Millionen US-Dollar, heute sind die Kosten auf rund 10.000 US-Dollar geschrumpft.

"Die Mehrheit der Genome im Baum des Lebens sind viel kleiner als das des Menschen", sagt die Biologin Camila Mazzoni vom Berliner Center for Genomics in Biodiversity Research, ebenfalls Mitgründerin der ERGA-Initiative.

50 Millionen Euro

"Technisch ist das machbar", sagt Schartl, "für die Sequenzierung aller Arten in Europa muss man etwa 50 Millionen Euro oder mehr rechnen. Pro Land sind das nicht mehr als ein bis zwei Millionen Euro aus dem Forschungsetat." Allerdings herrsche eine Schieflage zwischen der Produktion von Daten, die meist schnell und einfach sei, und der Auswertung, die sich bislang nicht automatisieren ließe.

Während sich das Erbgut gut erforschter Organismen wie Mensch oder Fruchtfliege in wenigen Tagen zusammensetzen lässt, braucht es für andere Arten bis zu einem Jahr. So haben einige Amphibien lange Genome: Das von Salamandern ist mit 120 Milliarden Basenpaaren 40-mal größer als das des Menschen.

"Eine Herausforderung ist auch die Bereitstellung des taxonomisch verifizierten Ausgangsmaterials der rund 250.000 europäischen Arten", so Schartl. Das heißt, jede einzelne Art, von Einzellern über Pilze bis zu Pflanzen, Insekten und Wirbeltieren, muss vorab gesammelt und bestimmt werden. Eine gigantische Fleißarbeit, die nur von Spezialisten geleistet werden kann.

"Die Erstellung von Referenzgenomen für alle Arten ist eine wichtige Komponente des Artenschutzes, insbesondere für das Verständnis und die Wiederherstellung von Artenvielfalt und Ökosystemleistungen", ordnet Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung die ERGA-Initiative ein, warnt aber vor zu hohen Erwartungen: "Der Erhalt von existierenden Lebensräumen mit der entsprechenden Artenvielfalt kann damit nicht ersetzt, sondern lediglich unterstützt werden." (Juliette Irmer, 9.2.2021)