Mediale Erinnerungsträger von oben nach unten: ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Dachau im Mai 1945, gefilmt vom Hollywoodregisseur George Stevens.

Foto: Library of Congress, George Stevens World War II Footage, [Liberation at Dachau] (2. bis 7. Mai 1945)

Darf man vor dem Tor in Auschwitz ein Selfie machen? Womöglich gar mit einem Lächeln im Gesicht, wie es angesichts einer Kamera viele Menschen fast unwillkürlich zeigen? Oder vielleicht sogar vor den Gaskammern? Fragen dieser Art sind keineswegs frivol, sondern sie zeugen davon, wie es bald achtzig Jahre nach dem Holocaust um das Gedenken an den Genozid an den europäischen Juden steht.

Gedenkstätten spielen eine bedeutende Rolle, genauso aber auch die digitalen Plattformen, auf denen Menschen ihr Leben teilen. Und so gibt es sogar so etwas wie einen Instagram-Effekt auf das Holocaust-Gedenken, und Facebook, das ja alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassen will, bietet sich als "virtueller Erinnerungsort" ("virtual memory place") an, mit der Möglichkeit, für Opfer ein Profil anzulegen, um auf diese Weise ihr Andenken zu bewahren.

Digitale Transformation

Mit den aktuellsten Aspekten dieses Aufstiegs einer "social media memory", in der die großen Plattformen zu neuen Gedächtnisorten werden, hat sich zuletzt der in Jerusalem tätige Historiker Tobias Ebbrecht-Hartmann beschäftigt. In einem Text mit dem Titel "Commemorating from a Distance" arbeitet er Beispiele dafür heraus, wie sich die digitale Transformation des Holocaust-Gedenkens unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie weiterentwickelt.

Ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Deutschland im März/April 1945.
Foto: National Archives and Records Administration (NARA), 111-ADC-4648

Ebbrecht-Hartmanns Überlegungen und Funde gehören in den Kontext des Projekts "Visual History of the Holocaust. Rethinking Curating in the Digital Age", das vom Ludwig Boltzmann Institute for Digital History und vom Österreichischen Filmmuseum koordiniert wird und noch bis 2022 läuft.

Die letzten Zeitzeugen

Die digitale Revolution fällt historisch mit dem Verlust der letzten persönlichen Zeugen des Holocaust zusammen und ermöglicht neue Zugänge zu Zeugenschaft, zum Beispiel in dem Projekt "Dimensions in Testimony", das Ebbrecht-Hartmann auch erwähnt und das im Wesentlichen auf eine holografische Gesprächssituation mit verstorbenen Menschen hinausläuft, die auf diese Weise eine andere mediale Präsenz gewinnen, als es mit Lektüre oder auch Videobildern der Fall wäre.

Die Kontaktbeschränkungen durch die Pandemie verstärken somit eine Tendenz, die auch davor schon zu erkennen war: Die Gedenkstätten müssen ihre Aufgaben für die Bedingungen von Youtube oder Instagram neu bestimmen.

Point-of-View-Ästhetik

Ebbrecht-Hartmann nennt als Beispiel Mauthausen, wo man bald nach dem ersten Lockdown zu "Digital Education" überging: Dabei wurde einerseits das ehemalige Konzentrationslager in Point-of-View-Ästhetik, die in digitalen Medien stark verwendet wird, neu "geöffnet", gleichzeitig wurde auch das dokumentarische Material (Fotografien) mit den entsprechenden Formaten (Instagram-Story, Youtube-Video) in neue Kontexte gesetzt.

Mit vielen anderen Beispielen macht Ebbrecht-Hartmann deutlich, dass die sozialen Medien zu einem "connective memory space" für Holocaust-Gedenken geworden sind.

Eine Aufnahme der US Army Air Force aus dem KZ Buchenwald im April 1945.
Foto: National Archives and Records Administration (NARA), 18-SFP-9113

Die "visuelle Geschichte" des Holocaust ist unweigerlich auch eine Mediengeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, die ihr Zentrum in den Dokumenten hat, die zwischen 1941 und 1945 entstanden sind, zu der aber auch alles zählt, was aus späterer Perspektive auf die Ereignisse zurückblickt.

Im Zentrum des Projekts "Visual History of the Holocaust" stehen die Bilder, die von den Befreiern in den letzten Phasen des Kriegs und unmittelbar nach dessen Ende gemacht wurden und die bis heute prägend dafür sind, welche Vorstellung sich Menschen von den Vernichtungslagern machen.

Bilder der Befreiung

Auch fiktionale Werke von Buch bis Film spielen eine Rolle. So hat sich die Historikerin Ulrike Weckel damit beschäftigt, wie Bilder der Befreiung in Serien wie "Band of Brothers" figurieren, und Samuel Fullers Spielfilm "The Big Red One" erzählt sogar ausdrücklich von einer Bewegung durch den Krieg, die in dem Konzentrations(außen)lager Falkenau und den dort entstandenen Bildern ihr Ziel findet.

Ethische Aspekte im Umgang mit dem Material tauchen nicht zuletzt dort auf, wo die Dokumente von den Tätern selbst stammen. So ist zum Beispiel ein Fotoalbum über die "Umsiedlung der Juden aus Ungarn" bekannt geworden, das im Sommer 1944 entstand und das sich schon mit dem beschönigenden Begriff Umsiedlung im Titel als problematisch erweist. Denn es waren zwei SS-Fotografen, die diese Fotografien machten.

Digital Humanities

Die Historikerin Ulrike Koppermann hat sich mit dem Album eingehend beschäftigt und dabei herausgearbeitet, wie sehr es implizit die Rechtfertigung des Transports in die Vernichtung betreibt – indem es den Ereignissen die "rationale" Form eines logistisch effektiven Prozesses gibt und die Opfer durch Serialisierung vereinheitlicht.

Von solchen durchaus noch eher klassisch geisteswissenschaftlichen Herangehensweisen schlägt "Visual History of the Holocaust" eine Brücke zu Zugängen, die sich ausdrücklich den digitalen Innovationen verdanken: Zum Beispiel gilt ein wesentliches Merkmal den Aspekten der "Verlinkung" zwischen unterschiedlichen Beständen. Diese werden dabei zum Teil automatisiert analysiert und auf Metadaten hin erschlossen. So wird das Projekt auch zu einem Exempel für die Digitalisierungspotenziale in den Geisteswissenschaften insgesamt. (Bert Rebhandl, 27.1.2021)