Mehr als 60.000 Menschen sind aus der äthiopischen Region Tigray im Sudan auf der Flucht. Sie werden dort unter anderem von dem UNHCR betreut.

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Die Nachrichten am 29. November waren überraschend, aber – soweit das in einem Krieg möglich ist – sie waren gut. Äthiopiens Regierung verkündete die schnelle und relativ unblutige Einnahme der Hauptstadt Mekelle in der nördlichen Region Tigray. Der Krieg gegen die regionale Armee der Tigray-Befreiungsfront TPLF sei de facto vorüber, hieß es damals. Heute, fast zwei Monate später, ist davon aber noch immer nichts zu spüren.

Ein aktueller "Snapshot" des UN-Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA), das sich unter anderem auf Meldungen anderer UN-Organisationen stützt, zeichnet ein furchtbares Bild der Lage. Rund 500.000 der etwa sieben Millionen Menschen in Tigray seien noch immer innerhalb der Region auf der Flucht. 60.000 hielten sich im benachbarten Sudan auf. Etwa vier Millionen Menschen hätten Bedarf an Hungerhilfe, die allerdings in den wenigsten Fällen in die Region gelangt. Und immer wieder gebe es grässliche Berichte: "Schwere Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Tötungen, sexuelle Gewalt, Zwangsrekrutierungen und ethnische Vertreibungen" zählt das Papier auf. Und natürlich: Auch die Kämpfe sind nicht vorbei, es gebe "Beschuss, bewaffnete Zusammenstöße und Tötungen aus dem Hinterhalt", heißt es.

Es ist eine Situation, vor der viele Beobachter bereits gewarnt hatten, als sich Anfang November der aktuelle Konflikt abzeichnete. Damals wurden äthiopische Truppen an der Grenze zur Region Tigray zusammengezogen. Premier Abiy Ahmed wollte damit auf die Versuche der TPLF reagieren, unabhängig von der Regierung in Addis Abeba die Region zu verwalten. Dazu gehörte unter anderem die Entscheidung, im Sommer einseitig Parlamentswahlen abzuhalten, obwohl Abiy diese für Gesamtäthiopien wegen der Corona-Pandemie auf kommenden Sommer verschoben hatte. In Folge beschloss die TPLF auch, Abiy ab dem 5. Oktober, an dem sein Mandat regulär ausgelaufen wäre, nicht mehr anzuerkennen.

Der Streit selbst reicht freilich viel weiter zurück: Die TPLF, einst eine erfolgreiche Rebellenarmee, hatte die äthiopische Regierung seit Beginn der 1990er-Jahre weitgehend kontrolliert. Dies gelang ihr, obwohl das Volk der Tigray nur rund sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung ausmacht. Erst die Ernennung Abiy Ahmeds zum Premier bereitete dieser Dominanz 2018 ein Ende. Der Sohn eines muslimischen Oromo und einer christlichen Amharin entstammt den beiden größten Volksgruppen des Landes (je rund 30 Prozent). Zudem schloss Abyi Frieden mit dem benachbarten Eritrea, mit dem die TPLF nach einem blutigen Grenzkrieg 1998 bis 2000 in tiefer Feindschaft liegt.

Krieg im Schatten

Der Krieg zwischen der Regionalarmee und den äthiopischen Truppen begann dann im Schatten der US-Wahl Anfang November. Und er blieb im Schatten: Internationale Beobachter dürfen noch immer nicht in die Region einreisen, auch Hilfsorganisationen waren bis vor kurzem weitgehend ausgeschlossen. Journalisten dürfen nach Tigray nur dann, wenn sie für die äthiopischen Regierungsmedien arbeiten – und wer den Krieg zu deutlich kritisiert, der wird auch außerhalb der Region von den äthiopischen Behörden juristisch belangt. Und natürlich: Handy- und Internetverbindungen nach Tigray sind seit Kriegsbeginn ebenfalls weitgehend unterbrochen.

Die Meldungslage bleibt daher noch immer bruchstückhaft. Klar scheint, dass die äthiopische Armee zumindest Mekelle sowie die restlichen größeren Städte kontrolliert. Klar scheint aber auch: Die TPLF ist nicht geschlagen. Sie setzt auf Guerillataktik, die sie auch in den 1980ern gegen den Diktator Mengistu Haile Mariam eingesetzt hatte.

Viele Fragezeichen um Eritrea

Und klar scheint zudem: Die Grausamkeiten nehmen kein Ende. Schon zu Beginn des Krieges hatten die beiden Seiten einander Massaker vorgeworfen. Die äthiopische Armee präsentierte Beweise, wonach tigrinische Truppen mehrere hundert Menschen in einem mehrheitlich von Amhara bewohnten Dorf umgebracht hätten. Menschenrechtsorganisationen sahen dieses Geschehen als bestätigt an. Umgekehrt gibt es auch schwere Vorwürfe gegen die äthiopische Armee sowie gegen Amhara-Milizen, die unter äthiopischem Befehl stehen. Unter anderem ist von gezielten Vergewaltigungen und erzwungenem Inzest die Rede, sowie von bewusst zerstörten Dämmen, um die Wasserzufuhr einzudämmen. Und vom Abbrennen von Feldern – oder anders angedrückt: davon, dass Äthiopien Hunger als Waffe einsetze.

Ein mittlerweile offenes Geheimnis ist auch der Einsatz des Militärs von Eritrea in der Region. Sowohl Abyi als auch Isaias Afewerki, seit 1993 totalitär regierender Präsident von Eritrea, streiten diesen zwar ab – sowohl die USA als auch die EU, Großbritannien und die Uno wollen aber ausreichende Beweise dafür gesammelt haben. Auch einzelne äthiopische Generäle sprechen von eritreischen Einsätzen in der Region.

Geflüchtete machen zudem die Truppen aus Eritrea immer wieder für Verbrechen verantwortlich – teils formulieren sie auch den Verdacht, die Soldaten, die als Teil des in Eritrea lebenslang verpflichtenden Militärdienstes in die Region verschoben wurden, wollten vielleicht gar nicht mehr zurückkehren. Präsident Isaias Afewerki soll nach Berichten von Diaspora-Medien eine künftige engere Union seines Staates mit Äthiopien in Aussicht gestellt haben. Eritrea hatte erst 1993 die Unabhängigkeit von Addis Abeba erlangt. Beide, Eritrea und Äthiopien, erhoffen sich nun aber von einer engeren Zusammenarbeit einen besseren Zugang zum Handel im Roten Meer – und mit ihnen die Vereinigten Arabischen Emirate, die beide Regierungen unterstützen und sich an diesem Handel beteiligen möchten.

Angst vor dem Zerbrechen des Staates

Große Sorge macht vielen Beobachtern, was der Konflikt für die Zukunft der Region bedeutet. Der Vielvölkerstaat Äthiopien hatte bisher als Stabilitätsanker in Ostafrika gegolten. Mehrere Konflikte fanden nur wegen der Mediationsbemühungen aus Addis Abeba ein Ende. Dort befindet sich auch der Sitz der Afrikanischen Union. Im benachbarten Somalia und im Südsudan halfen äthiopische Truppen dabei, den fragilen Frieden zu wahren. Nun hingegen erhebt ein Bericht des "Somalia Guardian" den Vorwurf, somalische Truppen würden mit Umweg über Eritrea als "Kanonenfutter" im Tigray-Krieg verheizt. Zugleich lieferten sich Truppen Äthiopiens und des Sudan an der Grenze Scharmützel.

Vor allem aber ist es die innere Stabilität des Landes, die nun infrage steht. Neben den Kämpfen in Tigray greifen auch in mehreren anderen Landesteilen separatistische Gruppen zu den Waffen. In der westlichen Region Benishangul-Gumuz verübten Milizen kurz nach einem Besuch Abyi Ahmeds ein Massaker, bei dem 200 Menschen starben, woraufhin die Zentralregierung auch dorthin Soldaten entsandte. Und das Streben der Oromo und Amharen nach mehr Kontrolle im Staat ist ebenfalls ein ungelöstes Problem.

Dazu kommt: Im Sommer 2021 sollen die Wahlen nachgeholt werden – was die Spannungen noch weiter anheizen könnte. Abyi hatte im November die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) aufgelöst, die aus zahlreichen ethnischen Parteien zusammengesetzt war. Er ersetzte sie durch eine panäthiopisch gedachte "Wohlstandspartei" – ein Projekt der Einigung, das letztlich zur Zersplitterung des der Bevölkerung nach zweitgrößtes Landes in Afrika beitragen könnte. (Manuel Escher, 27.1.2021)