Gedenken in Fleisch und Blut: 2020 wurde die Künstlerin Esther Strauß selbst Mutter. Das wurde Teil ihres performativen Denkmals: In der Geburtsurkunde steht in der Rubrik "Name der Mutter" Marie Blum.

Foto: Marie Blum

Welche Form, welchen Ort der Erinnerung kann es für die unzähligen Neugeborenen geben, die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten nur wenige Stunden oder Tage überlebt haben, die kurz nach ihrer Geburt gezielt getötet wurden oder die man grausam verhungern ließ?

Es war ein Gedicht des 2020 verstorbenen Schriftstellers und Roma-Aktivisten Rajko Ðuriæ (geboren in Auschwitz, gestorben in Auschwitz), das die österreichische Performance- und Sprachkünstlerin Esther Strauß dazu veranlasst hat, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Sie recherchierte, stieß auf die Geburts- und Sterbedaten von Marie Blum und beschloss, ein Jahr lang ihren eigenen Namen abzulegen und den von Blum zu tragen.

Unwiederbringlich

"Performatives Denkmal" nennt Strauß dieses Kunstprojekt. Sie maße sich damit nicht an, Marie Blum zu sein, sagt sie: "Im Zentrum der Arbeit steht vielmehr, dass das nie wieder jemand sein kann. Dieses Leben ist unwiederbringlich."

Aufwerfen will die Künstlerin mit dem Projekt aktuelle Fragen zu Erinnerungs- und Denkmalpolitik und zum spezifisch österreichischen Umgang mit der Täterschaft. Das Mädchen Marie Blum wurde am 5. September 1943 in Auschwitz geboren und dort drei Tage später ermordet. Sie kam in jenem Lagersektor zur Welt, in dem Roma und Sinti interniert waren. Für den nationalsozialistischen Völkermord an ihnen gibt es in Österreich bis heute keinen zentralen Gedenkort.

Esther Strauß war ein Jahr lang Marie Blum – ein "performatives Denkmal", das einem im KZ geborenen und ermordeten Mädchen dieses Namens gewidmet ist.
Foto: Marie Blum

Ein Umstand, den Strauß kritisiert. Denn gerade in der Corona-Krise zeige sich deutlich, "dass Antiromanismus heute noch weitverbreitet ist". Sie verweist auf Bulgarien, wo im Frühjahr 2020 ganze Stadtviertel von der Polizei radikal abgeriegelt wurden, die von Angehörigen der verarmten Roma-Minderheit bewohnt sind.

Als Marie Blum Mutter geworden

Texte, Bilder, Objekte, die mit der Geschichte ihrer eigenen Familie in der NS-Zeit zu tun haben, sowie amtliche Dokumente sind in das performative Denkmal eingeflossen. Dass die von Strauß beantragte Namensänderung just am 27. Jänner 2020 rechtskräftig wurde, war ein Zufall: Es war der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

Im März 2020 wurde die Künstlerin selbst Mutter einer Tochter, in der Geburtsurkunde steht im Feld "Name der Mutter" Marie Blum. Andere Aspekte dieses Denkmals bleiben unsichtbar. Das ist bei Arbeiten der 1986 in Tirol geborenen und in Wien lebenden Künstlerin oft so.

Bereits während ihres Studiums in der Malerei-Klasse von Ursula Hübner an der Kunstuniversität Linz begann sie auch performativ zu arbeiten, verschenkte über Zeitungsinserat einen 15-minütigen Hand-in-Hand-Spaziergang entlang der Donau, verriet aber nichts über den tatsächlichen Hergang der Aktion.

Auf Freuds Couch träumen

Intimität oder die Vorstellung davon, Tod, Verlust und Erinnerung sind Themen, mit denen sich Strauß auch beschäftigt, wenn sie wie in Die Heimsuchung eine Nacht und einen Tag lang allein in der Wohnung der verstorbenen Großmutter performt oder in London auf der Couch von Anna Freud schläft und träumt.

Die Lücken und Geheimnisse, die die Nacherzählung ihrer Performances im White Cube zwangsläufig beinhalten, versteht sie als Denkräume. "Was meine Arbeiten für sich behalten, ist genauso wichtig wie das, was sie erzählen."

Bemühter Musil

Das ist auch beim performativen Denkmal für Marie Blum so, für das Strauß 2020 den Theodor-Körner-Preis für Kunst erhielt. "Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler", hat Robert Musil einmal gesagt; in Debatten über die Errichtung von Denkmälern werden Musils Worte bis heute immer wieder bemüht.

Für Strauß steht außer Zweifel, dass skulpturale Denkmäler, die öffentlichen Raum besetzen, eine wichtige Funktion haben, doch sie erweitert die Diskussion um mögliche Formen des Erinnerns, wenn sie die Frage stellt: Was passiert, wenn kein Stein, sondern ein Mensch den Namen eines Opfers trägt?

Im Lauf der nächsten Wochen oder Monate wird im Reisepass der Künstlerin wieder der Name Esther Strauß stehen. Den Antrag auf neuerliche Namensänderung hat sie am 27. Jänner 2021 gestellt. (Ivona Jelčić, 27.1.2021)