Die Wissenschafterin und Buchautorin Elsbeth Wallnöfer kritisiert im Gastkommentar moraline Gaukelei und den Mangel an Mut der Regierenden.

Ums Impfen wird derzeit heftig gestritten: Die Älteren zuerst, heißt es. Ist das der richtige Weg raus aus der Pandemie?
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Das Wolfsgeheul, das jüngst über jene Bürgermeister hereinbrach, die sich klammheimlich haben impfen lassen, sollte endlich als jener Gesang erkannt werden, der er ist: eine Sinfonie der Bigotterie.

Ebenso ist das Loblied auf unsere Alten nichts als moraline Gaukelei. Denn es handelt sich nicht um wahre, aufrichtige Liebe zu unseren Pflegeheimbewohnerinnen. Bis zur Krise waren sie eine volkswirtschaftlich mathematische Größe, die uns beim Reisen, den Hobbys, im Urlaub im Wege standen. Drum sind sie ja in den Pflegeheimen, deswegen holen wir uns ja unausgebildete Pflegerinnen, die wir noch dazu miserabel bezahlen, ins Haus. Die Covid-Krise hat eines uneingeschränkt gezeigt: Wir sind eine Gesellschaft geworden, die den Tod zum Tabu erklärt hat, die pathologisch am diesseitigen Leben hängt, geradezu so, als bestünde ein verbrieftes Recht, ewig zu immer gleichbleibenden Bedingungen hier zu sein.

"Wenn wieder ein Bekannter gestorben ist: Überrascht es Sie, wie selbstverständlich es Ihnen ist, dass die anderen sterben?" Max Frisch, Fragebogen

Hierzulande ist der Tod als Tabu ein Ergebnis medizinischen Fortschritts und des seit Jahren währenden Friedens.

Ein wenig Augenmaß sollte der trendigen Hypermoralisierung schon abgefordert werden, zu ernst ist die Lage.

Es ist absurd, den Ältesten unter uns als Ersten ein Recht auf Impfung zu ermöglichen. Dies deshalb, weil man sie sehr gut einhegen kann. Nichts sollte leichter zu organisieren sein als eine Kontrolle der Pflegeheimbesucher.

Eine Pandemie ist ein Naturereignis. Man muss ihr mit militärischer, logistischer Strategie begegnen und nicht mit heuchlerischer Liebesbezeugung. Die Wirtschaft liegt darnieder, Schulden und Angst steigen gleichermaßen, Museen, Theater, Archive, Bibliotheken darben. Das künftige Heer der Arbeitslosen vermag man kaum auszurechnen, den Schaden an der Jugend erst recht nicht. An die Zunahme von Depressiven, Alkoholkranken, Angststörungen denkt kaum jemand. Die Zeche werden alle begleichen müssen – die Volkswirtschaften der Zukunft belastet werden.

Benennen, was ist

Daher wäre mehr Ehrlichkeit beim derzeitigen Krisenmanagement angebracht. Die scheinbar souveräne Geste, mit der eine Maßnahme durch eine widersprechende neue engelsgleich verkündet wird, verlängert das Chaos beziehungsweise das Sterben nur weiter. Eine Gesellschaft lebt von jenen, die das wirtschaftliche und kulturelle Werkl am Laufen halten. Daher gehörten diese zuerst geimpft. Ärztinnen und Pflegerinnen – wie das ja bereits passiert –, aber auch Putzfrauen der Krankenhäuser, Lehrerinnen, CEOs aus den Unternehmen, und ja, auch Politiker! Denn nur sie vermögen jene zu schützen, die wir neuerdings euphemistisch "vulnerable Personen" nennen. (Was wagen wir da nicht auszusprechen?) Wenn ich aber niemanden mehr habe, der jene schützen kann, die des Schutzes bedürfen, dann bleiben tatsächlich nur mehr Predigt und Gebet als Mittel der Strategie übrig.

So ist diese Katastrophe ein Spot, der offenbart, was man bereits vermutete. Unsere Politik brilliert durch einen Mangel an Organisationsvermögen, an Mut, an Ehrlichkeit. Der schillernden Darstellungskultur der Regierung fiel die Wahrheit zum Opfer. Es ist ein Gebot der Stunde zu benennen, was ist, sich nicht in einer glattzüngigen Geste unaufrichtiger Großzügigkeit und vorgespielter Liebe zu den Ältesten zu ergehen.

Künstliche Empörung

Nur eine Gesellschaft, die Hoffnung schöpft, die sich Träume zu erfüllen vermag, eine, die in Lohn und Brot steht also, ist eine Gesellschaft, die die Schutzbedürftigen zu behüten vermag. Daher sollte die künstliche Empörung nicht den Bürgermeistern gelten. Schimpfen muss man über die realitätsfernen Regeln, die derlei zu einem Gesetzesbruch werden lassen.

Wir unterliegen der Endlichkeit des Todes, alle. Die einzige Gerechtigkeit im Leben ist der Tod, denn der holt sich jeden von uns. Er ist also sehr demokratisch, dieser Tod. Die neue Mystik des Ewig-Lebens vergisst dies nur zu gerne. Umso mehr muss im Hier und Jetzt auf das Leben geblickt werden. Wir sind verwöhnte Tiere, die bisher gewohnt waren, in Wohlstand zu leben. Gewohnte Fülle lässt sich nur durch uns selbst aufrechterhalten, daher gilt es jene zuerst zu impfen, die an den Schlüsselstellen sitzen, die soziale wie wirtschaftliche Verantwortung tragen. Und ja, damit sind CEOs gleich wie Reinigungskräfte, Bürgermeisterinnen und Regierungsmitglieder, Aufseherinnen der Museen, Billeteusen im arbeitsfähigen Alter vorrangig zu impfen. Die Tartüfferie, mit der wir unseren Ältesten begegnen, sollte der Verantwortung für die Gesamtgesellschaft weichen. Wem hilft es zu fragen, ob sie bereits "gessn hobn", wenn währenddessen die Köchin gestorben ist.

Wir sollten wieder ins Museum oder Theater gehen können, um uns auf den Tod durch die grandiosen Zeugnisse von Todesdarstellungen der Kunstgeschichte und Literatur zu besinnen. (Elsbeth Wallnöfer, 27.1.2021)