Herdenimmunität ist ein Konzept aus der Epidemiologie, das eine indirekte Form des Schutzes vor einer ansteckenden Krankheit wie Covid-19 beschreibt.

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Seit Beginn der Pandemie gab es auch das Zauberwort, durch das sie beendet werden kann: Herdenimmunität. Wenn diese erst einmal – sei es durch Durchseuchung oder Impfungen – erreicht ist, haben wir die Bedrohung durch das neue Coronavirus ausgestanden. Sind 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung erst einmal gegen Sars-CoV-2 immunisiert, kann sich das Virus nicht mehr ausbreiten – und aus ist der Spuk.

Zu Beginn der Pandemie gab es in einigen Ländern kurz die Hoffnung, dass eine mehr oder weniger kontrollierte Durchseuchung der Weg zum Ziel sein könnte. Doch exponentiell ansteigende Infektionszahlen machten schnell klar, dass es sich dabei um einen Holzweg handelte, der Abertausende zusätzliche Tote fordern würde. Das hielt Mediziner im November nicht davon ab, in der höchst umstrittenen Great-Barrington-Erklärung etwas Ähnliches noch einmal zu fordern. Nur die Risikogruppen sollten geschützt werden. Dieser nicht umsetzbare Vorschlag wurde aus guten Gründen von keiner Regierung aufgegriffen.

Viele offene Fragen ...

Hinzu kommen mittlerweile noch zwei weitere offene Fragen: Wie lange hält der Immunschutz nach einer Infektion an? Und wie sieht es mit den Reinfektionen durch Mutanten aus? Aus der brasilianischen Millionenstadt Manaus gibt es diesbezüglich unangenehme Hinweise: Dort hatte man im Herbst wegen einer geschätzten Infektionsrate von rund 75 Prozent angenommen, dass eine lokale Herdenimmunität hergestellt sei. Seit Beginn der Regenzeit im November wütet dort die Pandemie abermals grausam. Schuld daran dürfte die neue Virusmutante P.1 sein, die Reinfektionen erleichtert – oder eben das Nachlassen der Immunität nach Infektionen im Frühjahr.

Seit Ende Dezember aber werden in vielen Ländern der Welt hochwirksame Impfungen verabreicht, die auch vor allen bisherigen Mutanten schützen dürften. Können sie uns dem Ziel der Herdenimmunität näherbringen?

Die drei Phasen einer Epi- oder Pandemie. Wir halten im Moment bei Phase zwei. Phase drei, die Herdenimmunität (und das Ende der Pandemie), ist im Fall von Covid-19 nicht ganz einfach zu erreichen.
Grafik: Niaid

Und wie hoch muss dafür der Prozentsatz jener Personen sein, die sich impfen lassen? Wie wirken sich die Wirksamkeitsraten der Impfstoffe auf die Herdenimmunität aus? Und welchen Unterschied macht es bei all dem, dass eine Virusvariante wie B.1.1.7 eine erhöhte Infektiosität aufweist?

... und die Antworten zweier Forscher

Zu diesen Fragen liegt nun neue Modellrechnungen von Alastair Grant und Paul Hunter (Universität von East Anglia) vor. Und die Antworten, die sie in dem noch nicht fachbegutachteten Preprint geben, sind – um es vorwegzunehmen – einigermaßen ernüchternd.

Grant und Hunter gehen von einigen grundlegenden Überlegungen aus. Durch die neue Variante B.1.1.7 dürfte die Basisreproduktionszahl R0 von Covid-19 von bisher etwa 3,5 auf etwa 5 angestiegen sein. Mit anderen Worten: Eine mit der Mutante B.1.1.7 infizierte Person würde im Schnitt ohne alle Eindämmungsmaßnahmen im Schnitt fünf weitere anstecken.

Das freilich bedeutet, dass zur Erreichung der Herdenimmunität rein rechnerisch etwa vier Fünftel oder 80 Prozent der Bevölkerung immun sein müssen. Denn der Wert R (also die tatsächliche Reproduktionszahl) muss dafür auf unter 1 gedrückt werden. WAs wir jetzt durch einen Lockdown halwegs gut erreichen. (Zum erläuternden Vergleich: Bei den Masern liegt der R0-Wert bei 18. Entsprechend müssen 17 von 18 Personen immun sein, um zur Herdenimmunität zu gelangen, also gut 94 Prozent.)

Die Wirksamkeit der Impfungen

Das Problem ist nun, dass diese 80 Prozent eigentlich nur mit den mRNA-Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna herstellbar sind – und das auch nur dann, wenn sich mehr als 84 Prozent aller Menschen impfen lassen. Dieser rechnerische Wert sinkt einerseits dadurch ein wenig, dass die bereits Infizierten auch zur Herdenimmunität beitragen. Doch dieser Anteil dürfte sich in Österreich nach neuesten Schätzungen nach wie vor knapp im einstelligen Prozentbereich (also eher noch unter 10 Prozent) bewegen.

Allerdings steigt der Wert wieder an, wenn wir die Kinder unter 16 berücksichtigen, für die Covid-Impfungen noch nicht zugelassen sind – und damit geht sich die Rechnung schon fast nicht mehr aus. Mit dem Impfstoff von Astrazeneca mit einer angenommenen Wirksamkeit von 70 Prozent schon gar nicht.

Dazu kommen noch etliche Unsicherheiten – etwa in der Frage, wie sehr durch die Impfungen Übertragungen verhindert werden. Das ist im Fall der bisherigen Impfungen (noch) nicht sicher. Helfen würden natürlich auch noch bessere Impfungen – etwa solche, die durch Nasensprays verabreicht werden und so sicher die Weitergabe des Virus verhindern.

Kritischer Kommentar zur Studie

Mit anderen Worten: Der Weg zur Herdenimmunität ist noch ziemlich lang, und wir müssen uns wohl oder übel darauf einstellen, bestimmte Schutzmaßnahmen auch noch beizubehalten, wenn all jene geimpft sind, die sich impfen lassen wollen. Das ist zwar keine gute Nachricht, aber auch keine Katastrophe, wie der Biostatistiker Stephen Burgess (Uni Cambridge) in seiner Einschätzung der Studie meint: "Selbst wenn die Herdenimmunität nicht erreicht werden kann, ändert dies nichts an der grundlegenden Dynamik der Reaktion auf die Pandemie."

Das Ziel bleibe, so viele Menschen wie möglich zu impfen. "Angesichts der derzeit verfügbaren Bestände wird dies am besten durch die Verwendung aller verfügbaren Dosen aller verfügbaren Impfstoffe erreicht." Die neue Studie gebe laut Burgess zwar die richtige Antwort auf die Frage "Ist Herdenimmunität alleine durch die Impfung herstellbar?" (nämlich: Nein). Aber diese Frage sei eigentlich irrelevant. Nachsatz: "Schnelle Impfungen bleiben der Schlüssel zur Eindämmung der negativen Auswirkungen der Pandemie."

In eine ähnliche Kerbe schlägt der Epidemiologe Mark Woolhouse (Universität Edinburgh) in seinem Kommentar zur Studie: "Selbst wenn es nicht möglich sein sollte, die Schwelle der Herdenimmunität zu erreichen, ist die Lage umso besser, je stärker wir die Übertragungsraten reduzieren können. Denn dann ist das Virus mit anderen Mitteln leichter zu kontrollieren." (Klaus Taschwer, 28.1.2021)