Als käme die ganze Wut und Verzweiflung hoch: Nach der Enthüllung der Anwältin Camille Kouchner über den Missbrauch ihres Bruders durch den Stiefvater und prominenten Politologen Oliver Duhamel in Buchform outen sich immer mehr Französinnen und Franzosen als Opfer sexueller Gewalt in der Familie. Aus vielen Bekenntnissen geht hervor, wie wichtig, aber auch unendlich schwierig der Gang an die Öffentlichkeit ist.

Da Duhamel in der Pariser Politik sehr stark vernetzt war, kann es nicht verwundern, dass sich in den öffentlichen Aufschrei auch etliches Schweigen mischt. Die zahlreichen Freunde des 70-jährigen Verfassungsrechtlers, die wohl im Bild waren, weil in Paris seit einem Jahrzehnt entsprechende Berichte und Gerüchte kursierten, reagieren unterschiedlich. Die ehemalige Justizministerin Elisabeth Guigou ist aus einer Pädophilie-Kommission ausgetreten. Der Direktor der Elite-Uni Sciences Po, Frédéric Mion, klammert sich an seinen Posten.

Bild nicht mehr verfügbar.

"Duhamel und die anderen, ihr werdet nie mehr Frieden haben", droht dieser Schriftzug in Paris.
Foto: AP/Mori

Heikel ist dieser Umstand, weil auch der Sciences-Po-Absolvent Emmanuel Macron Umgang mit beiden pflegte. Duhamel war schon früh von den Sozialisten ins Macron-Lager übergelaufen. Er beriet den Präsidentschaftskandidaten 2017 und nahm an dessen Wahlfeier im Pariser Brasserie La Rotonde teil. In seinen Medienauftritten verglich er Macron mit dem General de Gaulle, was in Paris einer politischen Heiligsprechung gleichkommt.

Wie Milch auf dem Feuer

Zumindest die politische Beziehung zwischen Macron und Duhamel war so eng, dass Le Monde nun kommentiert, im Élysée-Palast sei man geradezu "erstarrt" wegen der Affäre. Der Präsident verfolge ihre Entwicklung "wie die Milch auf dem Feuer". Bisher fragen allerdings keine Pariser Medien, ob und wie weit der Präsident von Duhamels pädophilen Neigungen gewusst oder auch nur gehört habe. Zu Macrons Entlastung ist zu sagen, dass in Paris viele einflussreiche Leute im Bild gewesen sein müssen. Duhamels Schwägerin Marie-France Pisier hatte in Paris möglichst viele Bekannte über Duhamels Umtriebe informiert, bevor sie 2011 auf ungeklärte Weise starb.

Die politische Opposition macht ihrerseits keine Anstalten, sich wegen dieser Affäre auf Macron einzuschießen. Zu groß ist die allgemeine Verlegenheit über das Ausmaß der Enthüllungen; zu groß bleibt in Frankreich auch das Bemühen, das öffentliche und das Privatleben der Bürger strikt zu trennen.

Trotzdem lastet die Duhamel-Affäre schwerer auf Macron, als man im Élysée-Palast zugeben würde. Das zeigt seine widersprüchliche Reaktion: Wie unter Schock schwieg der Präsident fast drei Wochen lang – jetzt wählt er umso stärkere Worte. Als wolle er jeden Mitwisserverdacht von sich weisen, bezeichnet er Duhamel als "Kriminellen, lobt den "Mut" der sich outenden Opfer.

Konkret kündigt Macron an, dass alle französischen Schüler in der Grund- und Mittelschule bei den obligaten Arztbesuchen vertraulich auch zum Thema Inzest befragt werden sollen. Das Parlament soll die zwanzig- und dreißigjährigen Verjährungsfristen revidieren.

Symbolische Klage

Duhamels Opfer hat am Dienstag nach rund 35 Jahren Klage gegen seinen Stiefvater eingereicht. Der Akt ist wohl nur symbolischer Natur, da die Verjährung unwiderlegbar sein dürfte. Der Meinungsumschwung dieses heute 45-jährigen Mannes, der die "Sache" über all die Jahre ruhen lassen wollte, sagt viel aus über den rasanten Bewusstseinsprozess der ganzen Nation aus. (Stefan Brändle aus Paris, 27.1.2021)