Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde am 2. Juni 2019 ermordet. Der Täter wurde am Donnerstag zu lebenslanger Haft verurteilt.

Foto: APA/AFP/POOL/SWEN PFORTNER

Die Nacht vom ersten auf den zweiten Juni 2019 ist mild. Auf seiner Terrasse in Wolfhagen-Istha bei Kassel (Hessen) sitzt der damals 66-jährige CDU-Politiker Walter Lübcke. Der Regierungspräsident im Bezirk Kassel raucht und sucht auf seinem Tablet nach Hotels für einen Kurzurlaub in der nahegelegenen Rhön.

Kurz vor Mitternacht fällt ein Schuss, Lübcke ist sofort tot. Zwar wird zunächst im privaten Umfeld ermittelt, doch bald gibt es Spekulationen, es könne sich um eine politische Tat gehandelt haben. Denn Lübcke hat immer die Asylpolitik von Kanzlerin Angela Merkel verteidigt. Im Oktober 2015, als täglich tausende Geflüchtete nach Deutschland kommen, widerspricht er Kritikern Merkels und sagt: "Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen."

Später wird die Szene im Internet veröffentlicht, mit dem Namen und der Privatadresse Lübckes. "Der Kasper aus Kassel macht es nicht mehr lange", lautet ein Kommentar darunter.

DNA am Tatort gefunden

Die Ermittler stoßen bald auf den heute 47-jährigen Neonazi Stephan E., sie haben seine DNA am Tatort gefunden. Auf sein Konto gehen: Brandstiftung in einem Keller eines überwiegend von Türken bewohnen Wohnhauses, versuchter Totschlag eines Imams, Angriff auf eine Asylbewerberunterkunft mit einer Rohrbombe.

Es kommt ab Juni 2020 zum Prozess am Oberlandesgericht Frankfurt/Main. Und zu mehreren Aussagen. Zunächst gesteht E., Lübcke erschossen zu haben. Dann erklärt er, der Schuss habe sich versehentlich gelöst. Die dritte Version lautet: Den Mord habe er gemeinsam mit einem Kumpel Markus H. begangen. Der jedoch wird im Herbst 2020 aus der bis dahin 15 Monate dauernden Untersuchungshaft entlassen, weil das Gericht keinen hinreichenden Tatverdacht sieht. Am Donnerstag ist das Urteil gefallen.

Höchststrafe für Täter

"Er projizierte Fremdenhass auf Dr. Lübcke", sagte Richter Thomas Sagebiel bei der Urteilsverkündung über E. Dieser bekam die Höchststrafe: Lebenslange Haft, das Gericht stellte zudem eine besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist eine Haftentlassung nach 15 Jahren praktisch unmöglich, zumal sich das Gericht eine anschließende Sicherungsverwahrung vorbehielt. Diese, so das Gericht, könne E. eventuell vermeiden, wenn er sich einem Aussteigerprogramm für Rechtsextreme unterziehe. Markus H. wurde nur wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Ursprünglich war er wegen Beihilfe zum Mord angeklagt worden.

Oberstaatsanwalt Dieter Killmer hatte im Prozess erklärt: "Ausschlaggebend für diese Tat war ein von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragenes Tatmotiv. Der Angeklagte zielte darauf ab, die aus seiner Sicht missliebige Flüchtlingspolitik, die Haltung, die Herr Doktor Lübcke in diesem Zusammenhang vertrat, abzustrafen."

Er sagte auch: "Es war ein Angriff auch auf unseren Rechtsstaat und die demokratischen Werte." Und er verwies darauf, dass es bei der Tat eine "historische Dimension" gebe: E. habe an Lübcke den ersten rechtsradikal motivierten Mord an einem Politiker in einem demokratisch verfassten Deutschland seit der Ermordung Walter Rathenaus 1922 begangen. Der liberale Reichsaußenminister war damals von Rechtsextremen erschossen worden.

Entschuldigung nicht authentisch

Zwar hatte sich E. während des Prozesses im Gerichtssaal an die Witwe und die beiden Söhne Lübckes gewandt und die Tat als "unentschuldbar und falsch" bezeichnet. Doch Gutachter Norbert Leygraf, ein forensischer Psychiater, hielt dies nicht für authentisch. Die Reue sei nicht spontan, sondern kontrolliert gewesen. Der Verteidiger von E., Mustafa Kaplan, hatte auf Totschlag plädiert. Seiner Ansicht nach habe E. Lübcke nicht aus niedrigen Beweggründen, die ein Mordmerkmal sind, getötet, sondern im Irrglauben, er würde "im Allgemeininteresse" handeln. Zudem sei Lübcke nicht "wehrlos" gewesen. Denn E. habe nicht einfach geschossen, sondern Lübcke zunächst in ein Gespräch verwickelt.

Kaplan hatte übrigens im NSU-Prozess als Nebenkläger ein Opfer des Bombenanschlags der Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in der Kölner Keupstraße vertreten.

Doch auch nach dem Urteil bleiben Fragen offen – etwa, in welches Netzwerk E. eingebunden war. Und warum ihn der Verfassungsschutz 2009 als "brandgefährlich" einstufte, später seine Akte sperrte und ihn dann offenbar nicht mehr auf dem Schirm hatte. Beleuchten will dies ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags. Eva Goldbach, innenpolitische Sprecherin der Grünen, sagt: "Die Frage, die über allem schwebt, lautet: Hätte man den Anschlag auf Walter Lübcke verhindern können? Und dann weiter, wenn Stephan E. zum Beispiel weiter vom Verfassungsschutz beobachtet worden wäre, wenn vielleicht die Polizei ihn als Gefährder im Blick gehabt hätte. Und das sind die wesentlichen Fragen, die wir jetzt klären müssen."

Bundesanwaltschaft kündigt Revision an

Die deutsche Bundesanwaltschaft hat nach dem Urteil Revision vor dem Bundesgerichtshof angekündigt. Nicht aber gegen den Schuldspruch, sondern gegen den Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes an einem irakischen Asylwerber – ebenfalls ein Teilpunkt der Anklage. Zudem will die Bundesanwaltschaft dagegen vorgehen, dass das Oberlandesgericht Frankfurt den Mitangeklagten Markus H. vom Anklagevorwurf der psychischen Beihilfe zum Mord an Lübcke freigesprochen habe. (Birgit Baumann aus Berlin, 28.1.2021)