Hans Kluge ist Kummer gewöhnt. Als er am 1. Februar vor einem Jahr sein Amt als Regionaldirektor für Europa bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) antrat, befand sich der Kontinent sowie weite Teile der restlichen Welt bereits am Vorabend des Lockdowns – allzu viel Aufmerksamkeit war dem Belgier trotzdem nicht beschieden. Nun, ein Jahr später, muss er bei einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit einmal mehr um Geduld bitten: Die – teils harschen – Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie jetzt schon zu lockern wäre viel zu früh.

Die Ansteckungsraten seien noch zu hoch und die Gesundheitssysteme noch immer stark belastet. "Öffnen und schließen und dann wieder schnell öffnen, das ist eine schlechte Strategie", sagte Kluge am Donnerstag bei einer Onlinekonferenz in Kopenhagen. "Es wird dauern, bis die Impfungen durchgeführt sind", machte er die Hoffnung auf eine baldige Immunisierung weiter Teile der europäischen Bevölkerung zunichte. Man befinde sich in einer Art "pandemischem Paradox", führte er aus: Einerseits wurden in 35 europäischen Staaten bereits insgesamt 25 Millionen Dosen des Impfstoffs verabreicht. Andererseits seien die neuen Virusmutationen ebenfalls flächendeckend auf dem Kontinent angekommen. Konkret sind laut Kluge derzeit 33 Staaten von der britischen und 16 von der südafrikanischen Variante betroffen.

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Hans Kluge – hier auf einem Bild aus dem vorigen September – hält ein rasches Öffnen der Wirtschaft für gefährlich.
Foto: David Barrett/WHO via AP

Nur drei Prozent waren schon infiziert

Das sei nicht die Zeit, sich in Sicherheit zu wiegen und die Lockdowns, die in aktuell 25 europäischen Staaten verhängt sind, aufzuheben. Schließlich sei man von einer flächendeckenden Immunisierung noch weit entfernt: Gerade einmal drei Prozent der Europäerinnen und Europäer hätten sich bis jetzt mit dem Coronavirus infiziert. Gegenden, die in der Vergangenheit stark betroffen gewesen seien, könnte es durchaus ein zweites Mal erwischen, warnte Kluge.

Doch es gebe Fortschritte: "Die Impfungen haben sich als so effektiv und sicher erwiesen, wie wir es uns gewünscht hatten. Diese gewaltige Errungenschaft wird Druck von unseren Gesundheitssystemen nehmen und ohne Zweifel Leben retten", sagte Kluge. Das Paradoxon aus Impfungen und gleichzeitigen Lockdowns führe im Moment aber bei vielen Menschen in Europa zu Ermüdung, Angst und Verwirrung. Man werde Zeuge einer "Parallelpandemie", weil, wie Kluge vorrechnet, die Hälfte der jungen Menschen in Europa seit Beginn der Covid-Krise mit psychischen Problemen zu kämpfen habe.

"Startschwierigkeiten" bei Impfung

Angesprochen auf den jüngsten Zank zwischen der EU-Kommission und dem britisch-schwedischen Impfstoffhersteller Astrazeneca, gab sich Kluge kämpferisch. Geimpft zu werden sei ein Recht, das alle Menschen für sich beanspruchen können, gleich welcher Bevölkerungsgruppe und Nationalität sie angehörten. Die Länder sollten sich im Rennen um die wertvollen Dosen nicht gegenseitig im Weg stehen, schließlich sei in einer Pandemie "niemand sicher, bevor nicht alle sicher sind". Regierungen und Produzenten sollten zusammenarbeiten, um die "Startschwierigkeiten" bei Herstellung und Auslieferung in den Griff zu bekommen.

Die Hersteller, ist sich Kluge sicher, arbeiteten jedenfalls rund um die Uhr daran, die Produktion voranzubringen. Ein Krisentreffen zwischen der EU-Kommission und Astrazeneca hat am Mittwochabend keine Fortschritte gebracht. (flon, 28.1.2021)