"Minister Nehammer hat mir gestern in einem unserer Telefonate eine gründliche Prüfung der einzelnen Fälle zugesagt", sagt Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) nach den vollzogenen Abschiebungen.

Foto: APA/ Georg Hochmuth

"Ich kann nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist", sagte der Bundespräsident in einem Video zu den Abschiebungen. "Wir müssen einen Weg des menschlichen, respektvollen Umganges miteinander finden. Gerade, wenn Kinder die Hauptleidtragenden sind."

Foto: APA/BUNDESHEER/PETER LECHNER

"Da war mir klar, dass sie uns verarschen", entfährt es einer grünen Nationalratsabgeordneten hinter vorgehaltener Hand. Nach den Abschiebungen georgischer und armenischer Schülerinnen Donnerstagfrüh fühlt sich der Juniorpartner der Bundesregierung von der türkisen Kanzlerpartei einmal mehr ungerecht behandelt, geradezu in die Ecke gedrängt. Dass "gut integrierte Mädchen abgeschoben wurden, ist unmenschlich und unverantwortlich", sagt der grüne Vizekanzler Werner Kogler.

Im Vorfeld versuchten Kogler, Sozialminister Rudolf Anschober und die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer im Hintergrund, Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) dazu zu bewegen, die Abschiebungen zu revidieren. Dieser versprach, die Fälle zumindest prüfen zu wollen.

Den Glauben verloren

Doch bei den Grünen glaubte man das recht bald nicht mehr. Die Türkisen argumentierten in den Gesprächen mit der Rechtslage und den negativen Urteilen – die Hände seien ihnen gebunden.

Dann rückte trotz des Versprechens von Nehammer auch noch ÖVP-Sicherheitssprecher Karl Mahrer aus, um die Abschiebungen der Schülerinnen zu rechtfertigen. Da sei klar geworden, dass es die ÖVP nicht ernst meine, heißt es im grünen Umfeld. "Ich frage mich auch, warum man sich für die Prüfung nicht mehr Zeit genommen hat", sagt Kogler. Im Büro des Vizekanzlers wirkte man doch recht überrascht, dass die Abschiebungen noch in der Nacht stattfanden.

Klubchefin Maurer schrieb sichtlich verärgert auf Twitter: "Wenn Minister Nehammer die Abschiebung so betroffen macht und er die Angelegenheit tragisch findet, soll er entweder die vorhandenen Spielräume nützen oder Gesetzesvorschläge auf den Tisch legen, um solche Fälle in Zukunft zu vermeiden. Sonst wird die Betroffenheit zur Heuchelei."

Bundespräsident Alexander Van der Bellen richtete sich am Donnerstagabend mit einem Statement an die Öffentlichkeit. "Ich kann und will nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist", erklärte Van der Bellen.

"In aller Höflichkeit" trat am Donnerstag ÖVP-Klubobmann August Wöginger den "zutiefst betroffenen" Aussagen von Bundespräsident Alexander Van der Bellen über die Abschiebung von Schülerinnen und ihrer Familien entgegen. Wöginger ersuchte den Bundespräsidenten "höflich", "die Unabhängigkeit der Justiz zu respektieren" – und den Höchstgerichten "das in einem Rechtsstaat selbstverständliche und nötige Vertrauen entgegenzubringen".

Am Donnerstagabend fanden in Wien Demos gegen die Abschiebungen statt. Trotz teils starkem Regen folgten mehr als 1.000 Menschen einem Aufruf von SPÖ-Jugend- und Frauenorganisationen und protestierten vor dem Innenministerium gegen "unmenschliche Abschiebepraktiken und die unverhältnismäßige Polizeigewalt". Zuvor war schon die ÖVP-Zentrale Ziel einer Protest-Demo.

"Ziemlich wütend"

Einige Stunden zuvor war die zwölfjährige Tina, der bekannteste Fall, noch in einem Fenster des Schubhaftzentrums in der Wiener Zinnergasse zu sehen. Ihre Klassenkolleginnen und -kollegen standen hinter einer Betonmauer, auf der zusätzlich ein Metallgitter angebracht ist, und winkten ihr zu.

DER STANDARD

In der Nacht auf Donnerstag kam es vor dem Zentrum zu Protesten gegen die Abschiebungen der zwei Schülerinnen und ihrer Geschwister nach Georgien und Armenien. Schüler und Politiker von SPÖ, Neos und Grünen demonstrierten – vergeblich. Sitzblockaden und Barrikaden wurden von der Polizei aufgelöst, die Kinder abgeschoben.

Für die ehemalige grüne Wiener Vizebürgermeisterin Birgit Hebein war dies ein "unwürdiges Machtgehabe", SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner machten die Abschiebungen als Mutter "fassungslos". Wiens Bürgermeister Michael Ludwig forderte, dass die "grausamen Abschiebungen" zurückgenommen werden. Auch innerhalb der ÖVP wurde Kritik laut: EU-Parlamentarier Othmar Karas twitterte, dass er "zu 100 Prozent" die klare und "zutiefst betroffene" Haltung des Bundespräsidenten teile.

Lukas Hammer hat nur eineinhalb Stunden geschlafen. Der Umweltsprecher der Grünen hat die Nacht vor dem Zentrum verbracht und protestiert. Hammer hat selbst in der Stubenbastei maturiert. Dass Tina mit Polizeigewalt außer Landes gebracht wurde, macht ihn "ziemlich wütend". Jetzt müsse es politische Konsequenzen geben.

Mit der ÖVP darüber zu reden werde nicht leicht, das weiß er. Dass ÖVP und Grüne hier meilenweit auseinanderliegen, sei allen bewusst, dennoch ist der grüne Abgeordnete selbst darüber überrascht, mit welcher Vehemenz vom Koalitionspartner eine harte Linie vertreten werde und selbst kleinste Änderungen abgelehnt würden.

Ein neues Fremdenrecht

Ein Ausweg könne sein, dass man die Entscheidungen über heikle Fälle auf Länder- und Gemeindeebene schiebt und dort wieder eine Härtefallkommission einrichtet – wenn sich ÖVP und Grüne auf Bundesebene nicht einig werden. Auch Neos-Asylsprecherin Stephanie Krisper fordert, dass künftig lokale Behörden bei Abschiebungen verpflichtend eingebunden werden müssen.

Hammer wünscht sich aber freilich etwas ganz anderes: ein neues Fremdenrecht. Dieses sei in den vergangenen Jahren sukzessive kaputtgemacht worden. Im aktuellen Fall sieht Hammer die Bevölkerung und Teile der ÖVP hinter sich: "Die Heimat dieses Mädchens ist in Wien, Tina gehört in die 3b in die Stubenbastei. Sie ist ein wertvoller Teil unserer Gemeinschaft, solche Menschen gehören nicht abgeschoben. Ich glaube, darüber gibt es bei einer Mehrheit im Land Einverständnis."

Helga Krismer, Landeschefin der Grünen in Niederösterreich, macht sich dafür stark, dass die Möglichkeit eines humanitären Bleiberechts wieder in Länderkompetenz kommt. Die derzeitige Abschiebepraxis sei unzumutbar und mit dem türkis-grünen Regierungsmotto "Das Beste aus beiden Welten" unvereinbar. "Die Bilder von abgeschobenen Familien spiegeln nicht die Erwartungshaltung von Grünen wider." (Jan Michael Marchart, Fabian Schmid, Michael Völker, 29.1.2021)