Gerald Haiderer öffnet die Tür zu seinem Büro, dort stehen ein Schreibtisch und ein Computer, von der Decke baumeln zwei Turnringe. "Ich führe jetzt ein normales Leben und bin glücklich", sagt der 27-Jährige. Da schwingt schon mit, dass in seinem Alltag früher nicht alles normal lief.

Im Jahr 2017 war Haiderer in der beliebten Kategorie "Men’s Physique" Österreichs stärkster Bodybuilder. Die Ringe in Haiderers Büro zeigen, dass er immer noch gerne Sport macht. Aber eben nicht mehr so bedingungslos wie bis 2017. Damals stemmte er an sechs von sieben Tagen pro Woche Gewichte und schaufelte sich täglich eineinhalb Kilo Hühnerfleisch mit Reis hinein. "Der Körper wehrt sich gegen die Muskeln", erinnert sich Haiderer, "also zwingt man den Körper dazu, sie zu behalten, man isst extrem viel." Auch nach seinem Karriereende hat er noch eine schmale Taille, starke Arme, breite Schultern.

Ein guter Bodybuilder sei wie ein Bildhauer, sagte einst Arnold Schwarzenegger, der Übervater der Sportart, im Dokumentarfilm Pumping Iron. "So wie ein Künstler an seiner Skulptur da und dort etwas Ton draufklatscht, macht der Bodybuilder dies mit seinem Training", erklärte der junge Arnie in dem Film von 1977.

Ziehen Muckis bei Frauen?

Auch Gerald Haiderer hat eine technische, fast kalte Sprache, wenn er über seinen Körper redet. Über seine einstige Trainingsintensität sagt er: "Du schaust immer, dass du dich umbringst und den Muskel komplett zum Versagen bringst." Gerichte wie Schnitzel und Pommes frites, die er früher nicht anrührte, nennt er "dreckige Kalorien".

Vier Jahre lang ordnete der Niederösterreicher alles im Leben dem Bodybuilding unter. Sein Ziel war die sogenannte Pro-Card, mit welcher der internationale Bodybuilding-Verband IFBB einem Sportler den Rang eines Profis bescheinigt. Ein Statussymbol. Sein Körper wurde damals zu seiner ganzen Welt, die Haiderer wie ein Diktator seinem Regime unterwarf. Gemeinsam mit einem Freund trainierte Haiderer in einem Studio in Oeynhausen südlich von Wien. Später engagierte er einen privaten Trainer, um die Muskeln an seinem Körper noch besser in die richtigen Proportionen zu trimmen: "In der Diätphase spielt dir die Psyche oft einen Streich, da brauchst du einen objektiven Trainer."

Im Zenit der Karriere: 2017 wog Gerald Haiderer mehr als 100 Kilo und gewann die Staatsmeisterschaft im Bodybuilding.
Foto: (c) Christoph Aumayr

Den ersten Anstoß hätten Bodybuilder in den sozialen Medien gegeben, Szenegrößen wie Zyzz und Jeff Seid. Und die Vorstellung "So bekommt man Mädels", gibt Haiderer zu. Je mehr er trainierte, desto mehr habe er es für sich selbst getan. "Je mehr Muskeln draufgekommen sind, umso weniger hat’s den Frauen auch gefallen", sagt er.

Als Haiderer mit dem Kraftsport anfing, wog er rund 58 Kilogramm. Im September 2017, in seinem körperlichen Zenit, brachte er mehr als hundert Kilo auf die Waage. Seine Arme seien damals nicht sehr beweglich gewesen, sagt Haiderer. Weil ihm gewöhnliche Größen nicht mehr passten, ließ er sich in Thailand Maßhemden fertigen.

Mit Tupper zur Party

Seine Freizeit hatte nichts gemein mit jener anderer 23-Jähriger. Haiderers Alltag war geprägt vom schweren Training, vom monotonen Essen, vom Verzicht. Wenn er beim Heurigen saß, griff er nicht zum Wein, zu Geburtstagsfeiern brachte er sein Tuppergeschirr mit Huhn und Reis mit. Sein Freundeskreis habe mehr und mehr aus anderen Bodybuildern bestanden. "Man sucht sich Freunde, die das auch so leben, sonst hätte man keine Freunde", sagt er und lächelt.

Noch extremer als im normalen Training verbringt man die Wochen vor einem Wettkampf. An diesem Tag müssen die Muskeln möglichst stark definiert sein. Man isst weniger. "In der Massephase habe ich circa 5.000 Kalorien gegessen, vor dem Wettkampf aber immer noch rund 4.000 Kalorien", sagt Haiderer. "Du bist wie ein Hochofen, so schnell verbrennst du die Kalorien."

"Wenn du am stärksten aussiehst, dann bist du am schwächsten." Bodybuilder Gerald Haiderer über die Zeit vor den Wettkämpfen.

Eine Woche vor einem Wettkampf habe er begonnen, täglich zwölf Liter Wasser in sich hineinzuschütten. So gewöhne man die Nieren an den hohen Wasserkonsum und mache den Körper glauben, er müsse viel Flüssigkeit ausscheiden, erzählt Haiderer. Dann reduziere man jeden Tag die Trinkmenge, auf sechs Liter, drei Liter, einen halben Liter. Am Wettkampftag trinkt ein Bodybuilder praktisch gar nichts mehr – die Muskeln und Adern treten hervor. "Wenn du am stärksten ausschaust, bist du am schwächsten", fasst Haiderer die Show bei Wettkämpfen zusammen.

Am 17. September 2017 gewann Haiderer in der Wiener Stadthalle die Staatsmeisterschaft – und bekam die Pro-Card, er war am Ziel. Ihm war klar, dass er nun aufhören würde. "Ich habe mir gedacht, ich möchte meine künftigen Kinder groß werden sehen", sagt er. "Hätte ich so weitergemacht, würde ich wohl kürzer leben."

Dünner, aber happy: Heute ist er immer noch sportlich – aber er ordnet sich nicht mehr völlig dem Körperkult unter.
Foto: stefan joham/www.stefanjoham.com

Langsamer Muskelabbau

Über das Thema Doping will Haiderer, der heute im Immobiliengeschäft tätig ist, auch nach seiner Karriere nicht öffentlich sprechen. Dass man auch im kleinen Österreich nicht ohne Steroide zum Meister in einer Bodybuilding-Klasse werden kann, gilt aber als offenes Geheimnis.

Mit dem täglichen Training Schluss zu machen und beobachten zu müssen, wie die Muskeln schwinden, sei für ihn hart gewesen. "Auf einmal wirst du immer weniger, da ist es schwierig, nicht zu denken: ‚Ich bin jetzt weniger wert.‘" Haiderer wollte aber nicht mehr seine Muskeln formen, sondern ein neues Selbstbild. Er musste sich regelrecht von der Sucht nach Perfektion entwöhnen. Am Anfang half es ihm, zu turnen und zu klettern, heute geht er auch gerne Kart fahren.

Es kostet Kraft, nicht mehr der Stärkste zu sein. Man könnte sagen, Haiderer hat sich glücklich geschrumpft. "Ich bin jetzt deutlich glücklicher, als ich es 2017 mit meinem überdurchschnittlichen Körper war", sagt er.

Die Jahre, in denen er nach dem perfekten Körper strebte, seien weder ein völlig falscher noch ein völlig richtiger Weg gewesen. "Es ist so gekommen, wie es kommen sollte", sagt Haiderer. Vieles schätze er heute mehr, als er es tun würde, wenn er nicht lange Zeit zwischen Gewichtsscheiben und Askese verbracht hätte. Haiderer denkt an das Sonntagsessen mit der Familie, ans Glas Wein mit Freunden.

Ein indischer Philosoph hat einmal gesagt, die Angst sei wie ein Raum. Man müsse diesen Raum erst einmal betreten und die Angst erleben, bevor man wieder hinauskönne. So ähnlich ist das wohl auch mit dem Wunsch nach Perfektion. (Lukas Kapeller, 1.2.2021)