Wohin gehen wir, wenn wir ohne Auftrag irgendwohin gehen? Zu Click & Collect? Oder streicheln wir die Speisekarten von Restaurants?

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Eine gute alte Tradition auf dem Land forderte früher vor allem von den älteren Familienmitgliedern, sich am Sonntagnachmittag ins Auto zu hocken und damit in der Umgebung herumzukriechen. Die ideale Reisegeschwindigkeit von 30 km/h erlaubte es dem aus Onkel, Tante oder Oma bestehenden Spähtrupp, exklusive Informationen für den häuslichen Tratsch einzuholen – und das Tage bevor die Lokalzeitung auf der Tacke lag:

Der Rohbau hinten in Gonetsreith gehört auch schon der Bank. Dem Feichtinger ist der Stadl abgebrannt. Beim Wirt in Mehrnbach steht seit Tagen ein deutsches Auto auf dem Parkplatz. Der Haberfellner hat sich scheiden lassen. Sie schaut ja schlecht aus, aber angeblich hat sie schon einen Neuen.

Das war die gute, alte Zeit. Mit dem Auto dauerte so ein Ausritt eine Stunde. Man war gescheiter und erholt. Und die Sache war erledigt. Man hatte etwas erlebt, von dem man die ganze Woche zehren konnte. Wer unbedingt Frischluft brauchte, konnte ja das Fenster hinunterkurbeln, wenn es der Tante nicht gerade zu viel zog.

Hinter Tumeltsham geht's weiter!

Damals herrschte Aufbruchstimmung. Man saß immerhin im Auto, der größten mobilen Versprechung des 20. Jahrhunderts. Wie weit kann man pro Tag gehen, und wie weit kann man mit dem VW Käfer fahren? Hinter dem Horizont geht es jedenfalls weiter. Man fährt zwar nirgends hin. Immerhin aber ahnt man, dass es irgendwo hinter dem ÖAMTC bei Tumeltsham hinauf auf die Autobahn geht. Auf dieser geht es hinaus in die weite Welt!

Heute hier draußen in der weiten Welt geht das mit dem gemütlichen Erkunden der Umgebung alles leider nicht mehr so easy-peasy. Jetzt bloß keine Witze mit Sesselliften: Wir sitzen hier in der Großstadt seit einem Jahr fix und fertig und fettig daheim im Lockdown. Alles gut, nichts zu tun. Fernseher läuft, Laptop summt, Backrohr brummt. Wir werden allerdings dazu ermuntert, das Haus regelmäßig zur sogenannten körperlichen und geistigen Erholung zu verlassen. Ohne Auto. Bitte nicht. Selbst mit Auto, wo soll man schon groß hin? Tagesausflug zum Stubaigletscher, zur Tankstelle an der Wienzeile, in den U-Bahn-Baustellenstau am Ring?

No Wirtshaus, no fun

Man muss dazu auch eines sagen, und viele haben das immer und immer wieder gesagt, unter anderem zählte der Großvater dazu: Wenn man kein reales Ziel vor Augen hat, zu dem man streben kann, weil dem Helden dort am Ende seiner Heldenfahrt der Gral, das Gold, die Impfung oder die Prinzessin lachen (oder im Falle des Großvaters das Gasthaus mit den Kartentipplern), dann kann man gleich daheim bleiben. No Wirtshaus, no fun.

Spazierengehen ist das Letzte. Das letzte Jahr war eine Katastrophe. Immer dieselben Gfrießer, immer die gleichen Wege, egal in welche Richtung. Selbst draußen vor der Stadt im gatschigen Winterzauber scheint das iPhone beim Schrittezählen als einziger Beteiligter Gewinn aus der Sache zu ziehen. Dieses sinnlose Herumgehatsche macht einen fertig. Warum?! Und wo, bitte, laufen die Jogger hin, die einen dauernd überholen?!

Es geht nichts weiter

Man könnte natürlich schick flanieren wie früher die Franzosen: Grüß Sie, Oarschloch, danke, selber! Man könnte schlendern, gockeln, schlurfen, gutbürgerlich den Kinderwagen oder den Hund herumschieben und -ziehen. Man könnte schließlich die Schaufenster geschlossener Geschäfte bewundern, die Speisekarten von Restaurants streicheln oder sich an der Auslage des Friseurs die Nase plattdrücken. Man könnte wutwandern. Kurz, man könnte sich durch eine Zombiestadt schleppen. Danke, nein. Vielen gefällt das allerdings, hie und da einen Coffee-to-go abzustauben, bei der Buchhandlung Click & Collect zu spielen oder sich in die Schlange vor der neuen Bakery zu stellen, die ihr Bauernbrot grammweise verkauft. Wird man dann zufrieden nach Hause kehren, um dort aus Kummer eine Tafel Schokolade zu fressen?

Kaiserin Sisi, die einen ordentlich an der Klatsche hatte, rannte übrigens pro Tag bis zu acht Stunden sinnlos im Kreis irgendwelcher Schlossanlagen herum und verbrauchte dabei jeweils mehrere Begleitdamen. Der passionierte und/oder getriebene Spaziergänger Thomas Bernhard wies im Zusammenhang mit dem Gehen in seinem gleichnamigen Roman nicht nur auf das dadurch begünstigte Denken hin, wie es schon die alten Griechen praktizierten. Leicht könne man davon allerdings auch in eine "ungeheuerste Nervenanspannung" und einen geistigen Erschöpfungszustand geraten, der den Menschen in den Wahnsinn treibe. Seien wir uns ehrlich, Spaziergehen ist scheiße.

Ein alter Philosophendialog lautet wie folgt. Philosoph 1: "Gehen wir wieder einmal miteinander aus?" Philosoph 2: "Wovon?"

Liebe Freunde, hinter Tumeltsham geht derzeit nichts weiter. Gar nichts.

(Christian Schachinger, 29.1.2021)