Studie eines unaufhaltsamen Zusammenbruchs: Yana (Ia Sukhitashvili) sehnt sich in Dea Kulumbegashvilis beeindruckendem Debüt "Beginning" nach einem Ausweg aus erdrückenden Verhältnissen.

Foto: Mubi

Das Chaos, das Covid-19 in der Verwertungskette der Filmbranche anrichtete, lässt sich auch gut anhand eines einzigen Werks erzählen. Eigentlich hätte das Spielfilmdebüt von Dea Kulumbegashvili in Cannes, als erster Film aus Georgien überhaupt, wie ein Meteor einschlagen sollen. Daraus wurde dann nur das "Label" des Festivals, der Film feierte erst in San Sebastián im Herbst Premiere, wo er den Jurypräsidenten Luca Guadagnino, den Regisseur von Call Me By Your Name, so begeisterte, dass er ihn mit einem wahren Preisregen überschüttet hat.

Gut möglich, ja ziemlich wahrscheinlich wird er sich in der am 9. Februar veröffentlichten Oscar-Shortlist für den besten fremdsprachigen Film wiederfinden. Als Streaming-Premiere wird er jetzt weltweit auf Mubi veröffentlicht, der Online-Plattform für Kinoliebhaber, auch wenn das wie ein Oxymoron klingt. Die 35-jährige Regisseurin, die in New York an der New School und an der Columbia University studiert hat, fühlt sich da am richtigen Ort. Auch im Lockdown bräuchten wir dringend Geschichten, sagte sie jüngst in einem Interview: "Und ich mache meine Filme ja nicht nur, damit man sie jetzt sehen kann!"

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Schon in dieser Aussage klingt das Selbstbewusstsein von Kulumbegashvili an, das sich auch in der formalen Rigorosität ihres Films widerspiegelt. Die erste Einstellung, die bis zum Ende der Szene vollkommen statisch gehalten ist, gleicht einem Tor in eine fremde Welt. Man blickt ins Innere einer Kirche der Zeugen Jehovas nahe den Bergen des Kaukasus, in der Predigt ist gerade von Abrahams Bereitschaft die Rede, Gott seinen Sohn Isaak zu opfern, als jemand die Tür aufreißt und eine Brandbombe in den Saal wirft.

Damit sind ein paar zentrale Motive des Films, die Frage von Opfertum, von Glaubenszweifel und einer Fehde benannt. Doch Beginning ist kein Drama, das einer Idee der Zuspitzung folgt, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Der Konflikt ist da und zugleich nicht, eine Ahnung im Hintergrund. Kulumbegashvilis Perspektive gehört vor allem Yana (Ia Sukhitashvili), der Frau des Predigers David (Rati Oneli, der auch am Drehbuch mitschrieb). Mit dem missionarischen Eifer ihres Mannes kann sie nicht mehr Schritt halten. "Es ist, als ob ich darauf warte, dass etwas aufhört", sagt sie bei einer Aussprache des Paars, "oder dass etwas beginnt."

Angst, dass das Leben vorbeiläuft

Die Unsicherheit, von der Beginning erzählt, liegt genau in diesem Intervall zweier völlig gegensätzlichen Ausgänge. Yana, früher einmal Schauspielerin, hat keinen Platz in dieser patriarchal ausgerichteten Welt, sie hat Angst, dass das Leben an ihr vorbeiläuft. Als David sie ein paar Tage mit ihrem Sohn allein lässt, übersetzt Kulumbegashvili ihren somnambulen Zustand in verblüffende Bilder. Eines der betörendsten zeigt, wie sie im Laub liegt, wie scheintot, während die Vögel zirpen. Eine Szene der Uneindeutigkeit: Ist sie aufgehoben in der Natur oder schon ganz weit weg?

Von Kameramann Arseni Khachaturan im Anti-Breitwand-Format (1,33:1) gedreht, verstärkt die Kadrierung der Bilder noch das Gefühl des Eingeschlossenseins. Aber da ist stets noch mehr: eine untergründige Unruhe. Trotz des Mangels an Freiräumen bleibt der Blick auf Yana emphatisch. Das gilt sogar für eine der unangenehmsten Szenen, als sie von einem Polizisten aus Tiflis besucht wird. Zuerst scheint er noch an dem Brandanschlag zu ermitteln, im nächsten Moment bringt er sie mit Fragen nach sexuellen Vorlieben in Bedrängnis. Die Kamera richtet sich weiter auf Yana. So behält sie einen Rest von Kontrolle, auch wenn diese Begegnung in ihr endgültig etwas zu zerbrechen scheint.

Eine Sache des Sehens

Die Regisseurin sagt, sie wollte den Film wirklich zu einer Sache des aktiven Sehens machen und keine Agenda verfolgen, die man gerade von Frauen oft gönnerhaft erwartet. Natürlich verlangt sie von einem die Bereitschaft ab, sich dem langsamen, intensiven Sog ihrer Bilder zu überlassen. Dafür lässt sie uns auch etwas weiter als ihre Heldin sehen. Der Film hat nämlich auch ein Bewusstsein für die Wünsche und Begierden, die in Yana verborgen liegen. Sie sieht sich lauter negativen Optionen gegenüber, einer einzigen Zwangslage. Doch der Film weist über eine simple Fluchtfantasie hinaus, er sucht noch in der Machtlosigkeit eine höhere Idee.

Die Kritik ist immer schnell mit Zuschreibungen: Dem Mexikaner Carlos Reygadas, der als ausführender Produzent fungiert, steht Kulumbegashvili mit ihrem Kino der wuchtigen, symbolhaften Elemente sicherlich nah. Und auch Chantal Akermans nüchterner Blick ist ihr nicht fremd. Doch Dea Kulumbegashvili steht auch ganz für sich selbst mit diesem Film. Ein Debüt, das man sehen sollte. (Dominik Kamalzadeh, 29.1.2021)