Eine heilige Kuh auf einer Müllhalde in Indien: "Die Pandemie wäre ein günstiger Zeitpunkt, ein Bewusstsein dafür zu bekommen, dass wir alle Teil einer Weltgemeinschaft sind."

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Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus." An diesen von dem im Jahre 2017 verstorbenen Kulturtheoretiker Mark Fisher zitierten und Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschriebenen Slogan musste ich im Laufe des Jahres 2020 während der Sars-CoV-2-Krise immer wieder denken.

Immer dann, wenn Menschenleben gegen ökonomische Notwendigkeiten aufgerechnet wurden. Immer dann, wenn ich miterleben musste, wie zu Beginn der Pandemie Lebensmittel und Hygieneartikel gehamstert wurden, als gäbe es kein Einkaufsmorgen mehr.

Immer dann, wenn plötzlich die ganze Welt unterzugehen schien, weil selbst die basalsten, staatlich verordneten pandemischen Maßnahmen eine unmöglich weiter hinzunehmende menschliche Tragödie, eine empörende Beschneidung der individuellen Freiheitsrechte und vollkommen inakzeptable Zumutung darstellten, da es ja keine Aussicht mehr auf Sommerurlaub, Flüge, Schiffsreisen, Skifahren, Restaurantbesuche, Kulturveranstaltungen, Shopping oder das Tanzen im Club gab.

Skeptisches Schulterzucken

Gleichzeitig dazu wurden reale Zahlen von tausenden an Corona verstorbenen Menschen mit einem skeptischen Schulterzucken abgetan und die dahinterstehenden Schicksale und das damit verbundene Leid, unterstützt durch dummdreiste Dilettantenexpertisen, einfach ignoriert.

An diesen Satz musste ich auch denken, als ich die zwanghafte und oft ins Leere laufende Produktivität rund um mich wahrnahm oder an mir selbst beobachten musste, die sich gefühlt wenige Sekunden nach dem ersten Lockdown überall breitmachte und im Grunde seither nicht mehr aufgehört hat.

Eine durch Job- und Einkommensverlustangst befeuerte, fiebrige, digitale Geschäftigkeit war zu spüren, branchen- und milieuübergreifend wurden Meetings und Chats anberaumt, Videos versendet, neue digitale Kanäle angelegt, und stetig anschwellende Livestreams durchziehen seitdem das Internet. Content, wenn schon sonst nichts, dann musste zumindest ganz im Sinne der guten alten Produktions- und Profitmaximierungsideologie Content generiert werden.

Scheitern an den Ängsten

Wir alle scheitern nach wie vor angesichts dieser Pandemie vor allem an unseren Ängsten, die wir aber, ganz der allumfassenden Verwertungslogik folgend und weil wir es nie anders gelernt haben, als unsere vermeintlichen Ansprüche identifizieren. Corona hat uns zu Beginn des Ausbruchs während des ersten Lockdowns Anfang des Jahres für einige Momente – wenn es hoch herkommt Wochen – auf eine surreale und natürlich nur oberflächlich durch eine "Erste-Welt-Problembrille" betrachtete Weise zu Gleichen unter Gleichen gemacht.

Für eine kurze Zeit schien die Menschheit über alle Kontinente hinweg zumindest graduell und in Variationen von derselben existenziellen Angst befallen zu sein. Plötzlich hatten alle keine Aussicht. Die Zukunft schien für alle gleich unvorhersehbar, und sich prinzipiell ausschließende kollektive und singuläre Zustände näherten sich aneinander an.

Der Shutdown der Welt und der Lockdown des Einzelnen verschmolzen. Die Grenzen unserer Wohnungen und die Grenzen unserer Welt fielen in eins, und unser aller kollektive Hölle waren für einige Wochen aus direktem Mangel am Anderen nun definitiv plötzlich nur mehr wir selbst.

Das wäre also eine günstige Gelegenheit gewesen, so etwas wie ein Bewusstsein zu erlangen für die faktisch erdrückende Erkenntnis, dass wir alle Teil einer zusammenhängenden, voneinander abhängigen und daher hoffentlich auch solidarischen Weltgemeinschaft sind.

Erosion des Kapitalismus

Diese existenzielle Angst wich aber bald der nur noch rein ökonomischen Angst und Desorientierung, und nun fragen wir uns: Wie soll die drohende, vor kurzem gänzlich undenkbare Erosion des kapitalistischen Systems und der ökonomischen Kräfte eingedämmt werden? Wie werden wir unser Leben nach der Pandemie führen? Wie sollen wir uns darauf vorbereiten?

Und die wichtigste Frage von allen dabei: Wie kann die Wirtschaft wieder angekurbelt werden, wie kann unserer Leben, dessen Sinn anscheinend ausnahmslos aus Produktion und Konsumation besteht, endlich wieder Fahrt aufnehmen?

Genauso wichtig in diesem Zusammenhang scheint mir allerdings auch die seltener gestellte Frage zu sein, wie wir unser Leben eigentlich vor der Pandemie geführt haben. Wie konnte es dazu kommen, dass diese Pandemie, vor der die Wissenschaft schon seit langem gewarnt hatte, innerhalb kürzester Zeit die komplette Weltwirtschaft derart ins Wanken brachte?

Secondhand-Version des Prä-Covid-Lebens

Auf welch brüchigem, substanzlosem Fundament war denn dieses unhinterfragte System aufgebaut, dass es so einfach und nahezu aus dem Nichts so gewaltig ins Taumeln geriet? Ohne Arroganz und durchaus im Bewusstsein des immer schon bestehenden großen weltweiten, ökonomischen Ungleichgewichts frage ich mich daher: Wie könnte eine vollkommen andere, weniger konsumistische, weniger produkt- und profitorientierte, dafür aber existenziell umso nachhaltigere und damit viel angstfreiere Welt aussehen?

Schnee von morgen sind solche Projekte wie das einer Müllverbrennungsanlage in Kopenhagen, so dystopisch das auch aussehen mag.
Foto: AFP / Olivier Morin

Es wäre also an der Zeit, ein paar grundlegende Änderungen vorzunehmen, wenn wir nicht eine Secondhandversion unseres früheren Prä-Covid-Lebens führen wollen. Es wäre an der Zeit, unser Denken, unsere Weltsicht und unsere zementierten Gewissheiten und Überzeugungen infrage zu stellen und eine grundlegende Bewusstseinsverschiebung vorzunehmen.

Was wäre, wenn wir uns doch noch das Ende des Kapitalismus, zumindest so wie wir ihn kennen, vorstellen könnten, ohne dabei ein nachhaltiges und gutes Leben gegen eine zweifelsohne notwendige und funktionierende Wirtschaft ausspielen zu wollen?

Auswege aus der Misere

Wie wäre es, wenn wir die Idee einer globalisierten Welt retteten, indem wir die Prämissen eines vollkommen sinnentleerten Turbokapitalismus endlich aufgeben würden und die uns alle vereinnahmende und sinnlose Konsumgier endlich hinter uns ließen? Wäre das so schlimm? Ist das tatsächlich ein unmöglicher Gedanke?

Was wären denn die impliziten Folgen? Böte diese Vorstellung nicht Anstöße zu möglichen Auswegen, gerade aus der momentan vollkommen verfahrenen Misere? Für viele klingt das hoffnungslos naiv, ich weiß, aber für mich steckt da ein durchaus tröstlicher Gedanke darin.

Was würde es bedeuten, diesem Kapitalismus, diesem schwammigen System, unter dem alle etwas leicht anderes verstehen, das so allumfassend und gottgleich unsere Lebensrealität bestimmt und das uns zweifelsohne indirekt überhaupt in diese Krise geführt hat, eine radikal eingeschränkte und bei weitem nicht mehr so wichtige und alles vereinnahmende Rolle in unserem Leben zuzuschreiben?

Bewusst und mit der notwendigen Bereitschaft, ein anderes, reduzierteres, vom tonnenschweren Ballast vollkommen unnötiger Produkte, Verhaltensweisen und Arbeitsmethoden befreites Leben in Erwägung zu ziehen.

Selbst wenn wir nur mehr das konsumieren würden, was wir vor der Pandemie verschwendet haben, behaupte ich hier einfach einmal, hätten wir wahrscheinlich genug.

Kollektive Ökonomie und Gemeinwohl

Sinnlosigkeit und Ratlosigkeit, wohin man blickt. Vielleicht sollten wir endlich einmal beginnen, darüber nachzudenken, was wir in unserem privaten Leben und unseren kollektiven Ökonomien im Sinne eines Gemeinwohls verbessern könnten.

Wie wir radikal all unsere Energien und Kräfte für eine gerechtere Welt einsetzen könnten, anstatt sie an Wettbewerbsdenken und Profitmaximierung zu verschwenden, um schnellstmöglich den Reset des alten Neoliberalismus in die Wege zu leiten.

Wie wir unsere Produkte und Lebensmittel, die Produktions-, Vertriebs- und Reisebedingungen unter vernünftigen klimapolitischen Überlegungen neu gestalten könnten.

Wie wir bewusster mit unseren dekadenten Konsumgewohnheiten, den kulturellen Gütern und der Kunst, unseren Ressourcen, unserer Arbeitskraft, unserer Energie und der sinnvollen Nutzung digitaler Technologien umgehen könnten.

Wie wir in allen Lebensbereichen ein nachhaltigeres System aufbauen könnten und ernsthafte Modelle einer verbesserten Bildung für alle und einer existenziellen Grundsicherung umsetzen könnten, um damit Menschen eine Form von Sicherheit zu geben, die sie davon abhält, Verschwörungstheorien und bizarren politischen Faktenverdrehungen zu folgen, auch dann noch, wenn die Produktionsmaschinerie mal für eine Weile nicht ganz so glatt läuft.

Der Zug scheint wieder abgefahren

Aber mir scheint, dieser Zug ist bereits wieder abgefahren, schneller, als man überhaupt schauen konnte. So wie bereits zwischen der ersten und von allen Expertinnen immer schon vorausgesagten zweiten Welle einfach weitergemacht wurde, als wäre nichts gewesen, nichts passiert, bleibt auch jetzt einzig die Frage zu stellen, was mit uns allen nicht stimmt, dass wir nach all den Entwicklungen des letzten Jahres nach wie vor diesen absolut irren, besinnungslosen Zustand des Konsumwahns permanent und so schnell wie möglich reetablieren wollen.

Wo Corona- und Klimakrise zusammenkommen: Die Pandemie zeigt die Notwendigkeit zur Solidarität auf.
Foto: AFP / Anthony Wallace

Die althergebrachte Bullshitrekonstitution ist längst wieder voll im Gange. Die unzähligen Hüter des Gestern mit ihren alteingesessenen Weltanschauungstrademarks stehen in den ersten Reihen bereit und scharren in den Startlöchern, um mit ihren verstaubten politischen, philosophischen, künstlerischen und ökonomischen Taschenspielertricks die Gesellschaftssysteme von neuem zu vereinnahmen.

Information zum Zwecke der Desinformation. Keine Bereitschaft zur Selbstreflexion. Die Kommerzialisierung unserer Privatmeinungen auf den Social-Media-Plattformen. Anstatt im politischen Diskurs das Miteinander zu suchen, sehen wir überall nur ein politisches Hickhack und eine kleingeistige, wenn auch globale Vorwurfsunkultur, wohin man blickt. Denn Schuldige müssen unbedingt gesucht und ausfindig gemacht werden. Darauf soll nun alle Diskursenergie verschwendet werden.

Brave Untertanenmentalität

Die Länder, die Verursacher, die Übertreiber, die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die mutwillig und übertrieben einen totalen Lockdown herbeigeführt haben, und all die Politiker und Politikerinnen, die nicht genug oder doch zu viel getan haben, zu viele Erlässe und Regeln, zu wenig Geldflüsse, Impfstoffe und Lockerungen freigesetzt oder verhindert haben. Von den bizarren Verschwörungstheorien ganz zu schweigen.

Für mich spiegelt sich in vielen dieser Haltungen eine leider oft sehr infantile, rotzfreche, wenn schon auch brave Untertanenmentalität wider, eine Unselbstständigkeit im Denken der Einzelnen, die ich in diesem Ausmaß bei vielen Menschen ehrlich gesagt so nicht vermutet hätte. Wirkliche politische und persönliche Freiheit für die Mitglieder freier Gesellschaften ist komplex, anspruchsvoll, anstrengend und fordernd und leider nicht im Sonderangebot zum Dauertiefpreis zu haben.

Die Pandemie zeigt überdeutlich die globalen Zusammenhänge und die Notwendigkeit zur Kooperation und Solidarität auf, um daraus eine ausgewogene und vorurteilsfreie Balance aus regionalem und globalem Vorgehen zu entwickeln. Doch die momentanen allgemeinen Reaktionen auf diese Tatsache verweisen eher auf einen reflexhaften Rückschritt in nationalistisch gefärbte Positionen des 19. Jahrhunderts als auf die Bereitschaft, ein Bewusstsein für das Gegenteil und damit eine Aussicht für die Zukunft des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.

Die Pandemie deckt so auf eine faszinierend klare Weise – wie schon des Öfteren erwähnt – die kollektiven und individuellen Defizite unseres Systems auf und gewährt dabei einen erschreckenden Blick auf die unzähligen ideologischen Viren, die sich da in unser aller Köpfen festgesetzt haben.

Missbrauch der freien Rede

Die Marktkonzentration riesiger Konzerne schreitet währenddessen nach wie vor unverdrossen voran. Die Granularisierung von Meinungen, das politische Lügen und Faktenverdrehen und der Missbrauch der freien Rede auf den Social-Media-Plattformen, die sich allesamt jüngst in den USA in einer gewalttätigen Totaleskalation in Form eines massiven Angriffs auf die Grundfesten der Demokratie in der analogen Welt manifestiert haben, scheinen massiver denn je.

Groteske Fiktionen und Wirklichkeitsverzerrungen kapern mittlerweile täglich im Großen wie im Kleinen unsere Realität, und wir lassen es zu, indem wir sie durch unsere eitlen Kommentare womöglich noch verstärken. All das wird auch in Zukunft, so fürchte ich, weiterhin in variierter Form in immer neuen Wellen auf uns zukommen. (Jürgen Berlakovich, ALBUM, 31.1.2021)