Kann die Natur eines Tages genauso schön sein, wenn wir sie nur aus sicherer Entfernung oder in digitalen Welten erleben?

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In so unsicheren Zeiten wie diesen fallen Ausblicke schwer – nicht nur auf die kommende Woche, sondern noch viel mehr in die weitere Zukunft. In ihrem Buch "Eine kurze Geschichte der Zukunft" hat es die österreichische Physikerin und Bionikerin Ille Gebeshuber trotzdem gewagt, mehrere Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte nach vorn zu blicken. Die aktuelle Pandemie wird für sie dabei kaum mehr eine Rolle spielen. Stattdessen werden wir uns mit Parallelwelten, neuronalen Implantaten und Telepathie beschäftigen müssen. Für die Natur könnte das auch eine Entspannung bedeuten – aber nur, wenn wir Pflanzen und Tiere in der realen Welt "in Ruhe lassen".

STANDARD: Sehr geehrte Frau Gebeshuber, Sie sind ausgebildete Physikerin und Bionikerin. Was interessiert Sie an der Zukunft?

Gebeshuber: Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass es nicht reicht, nur gute Technologien zu entwickeln, sondern dass man auch breiter schauen muss. Ganz wichtig ist, dass man in seiner Arbeit nicht nur an sich selbst und den momentanen Vorteil denkt, sondern auch zukünftige Generationen miteinschließt. Mir sind dann verschiedene Völker untergekommen, die diese andere Art des Denkens ganz normal in ihrem Alltag praktizieren.

STANDARD: An welche Völker denken Sie?

Gebeshuber: Während der sieben Jahre, in denen ich in Malaysia gelebt habe, war ich sehr viel im Regenwald mit lokalen Führern unterwegs. Ich habe versucht, mir von diesen Menschen nicht nur den Weg, sondern auch ihr Wissen und ihr Nachdenken über die Welt zeigen zu lassen. Da kommt man unweigerlich mit deren Zukunftsperspektiven in Kontakt und sieht, dass sie sich in vielen Fällen ganz stark von unserem westlichen Kasterldenken unterscheiden.

STANDARD: Inwiefern?

Gebeshuber: Bei uns kommt nicht nur die Verantwortung für die Zukunft zu kurz, sondern wir stellen auch jeden Einzelnen in den Mittelpunkt. Es ist ein großer Unterschied, ob man sich als Ich-AG sieht, die Erfolg, Erfolg, Erfolg wie Perlen auf einer Schnur nacheinander aufreihen muss, oder sich als Teil einer Bewegung in eine bessere Zukunft begreift, die auch für noch nicht Geborene mitdenkt. Dieses Denken in die weitere Zukunft, die Zukunftsvision, geht bei uns zusehends verloren – auch weil wir in verschiedenste Sachzwänge eingesperrt sind. Wir werden evaluiert, wir werden nach kurzfristigen Projektergebnissen bezahlt, die Politiker werden gewählt, wenn sie sagen, was die Leute hören wollen. Da kommen immer mehr kurzfristige Ziele ins Spiel, und das Langfristige wird aus den Augen verloren.

STANDARD: Bei welchen Themen sollten wir langfristiger denken?

Gebeshuber: Überall. Wie man eine solidarische Gesellschaft baut, wie man nachhaltig Politik, Technologien und internationale Beziehungen angeht, wie wir gemeinsam definieren, wie wir in Zukunft leben wollen. Es geht ja eigentlich um das gute Leben – im Idealfall für alle. Wir sollten schauen, welche Voraussetzungen wir dafür brauchen. Etwa dass wir darauf achten müssen, dass Artensterben und Klimawandel automatisch in den langfristigen Entscheidungen berücksichtigt werden. Wir müssen unseren Nachkommen diese Art des Denkens lernen, den Leuten zeigen, in welche verschiedenen Richtungen man denken kann und was man als Einzelner bewirken kann, wenn man will.

STANDARD: Wie wichtig sind diese unterschiedlichen Perspektiven?

Gebeshuber: Dadurch, dass man über das Internet und die digitalen Medien ein Meer von Informationen zur Verfügung hat, fällt es sehr leicht, Informationen nur entlang der eigenen Interessen auszuwählen. Man liest immer spezialisierte Publikationen und lernt immer engere Kreise kennen. Dort wird uns immer wieder rückversichert, dass das, was wir glauben, das Einzige und das Wichtigste auf der ganzen Welt ist. Themengebiete, die einen aus der eigenen Komfortzone hinausbringen, die einen dazu bringen, über die eigene Denkweise zu reflektieren, werden so unterdrückt. Die Alternative dazu wäre, mutig und verspielt an die Sachen heranzugehen und ganz Neues auszuprobieren. Nur so wird es langfristig wieder möglich sein, dass die Menschheit wieder völlig revolutionäre Entdeckungen macht.

STANDARD: In der Bionik beschäftigen Sie sich seit vielen Jahren mit den Schnittstellen zwischen Natur und Technik, in Ihrem Buch mit dem übergeordneten Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Wie könnte das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in Zukunft aussehen?

Gebeshuber: Es ist sehr wichtig, dass die Menschen beginnen, Respekt vor der belebten Natur zu entwickeln, Ehrfurcht vor dem Leben. Mir gefällt dieses Zitat von Albert Schweitzer sehr gut: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Diese Philosophie ist aber sehr schwer zu befolgen, weil sich der größte Teil der Zivilisation der Zukunft mehr und mehr von der Natur abkapseln wird. Das wird sie auch müssen, weil die Eingriffe ansonsten viel zu stark sind.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Gebeshuber: Ich habe das in Kuala Lumpur in Malaysia gemerkt. Neben unserem Haus war ein Regenwald, der mittlerweile völlig von der Großstadt umwachsen ist. Meine naturliebenden Nachbarn sind da jeden Tag wandern gegangen, weil sie die wilden Katzen sehen wollten. Aber für mich war dieser Wald heilig. Ich bin da nicht hineingegangen, habe gesagt, da müssen wir Abstand halten, weil die Tiere keinen Platz mehr haben. In der Zukunft werden wir mehr Abstand von der Natur halten müssen, etwa indem wir uns in die digitale Welt zurückziehen.

STANDARD: Können Sie das genauer beschreiben?

Gebeshuber: In Zukunft wird es immer mehr so sein, dass ein kleiner Teil ein sehr schönes, gut geschütztes Luxusleben in der realen Welt führt, aber die meisten anderen digitale Träume träumen. Der Vorteil dieser digitalen Träume für die Menschen ist, dass sie sehr gut und schön in Kontakt mit vielen anderen Menschen und Gegenden kommen. Gleichzeitig würde es sehr viel Druck von der Natur wegnehmen und schlussendlich ein akzeptabler Kompromiss für alle Beteiligten sein.

STANDARD: Wäre das nicht eher eine Spaltung als ein Kompromiss in der Gesellschaft?

Gebeshuber: Im Grunde haben wir diese Unterschiede ja jetzt schon: absolut elitäre Gruppen, die ganz andere Welten beleben als der Rest der Menschheit. Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen wird in der Zukunft an Bedeutung verlieren. Nicht deswegen, weil die Menschen geringgeschätzt werden, sondern, weil sich diese Wirklichkeiten so stark voneinander entfernen. Die Reichen, die in der echten Welt leben, werden genoptimiert und gesund sein und die schönsten Flecken der Erde bewohnen. Das bedeutet aber nicht, dass andere Menschen, die nicht so privilegiert sind, mit ihren von Implantaten getragenen Sinnen nicht noch schönere Flecken finden können – eben in virtuellen Universen – und noch dazu mit Fähigkeiten, die weit über die körperlichen Fähigkeiten des Menschen hinausgehen. Es geht also nicht so sehr um Gleichheit, sondern um Glück, um Selbstverwirklichung. Es wird sehr viele Möglichkeiten geben.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass wir in dieser Zukunft den Bezug zur Wirklichkeit verlieren?

Gebeshuber: In meinen Zukunftsvisionen gibt es kein Internet mehr, sondern die sogenannte Cumulus. In dieser Cumulus gibt es neben der realen Welt verschiedene Parallelwelten beziehungsweise Wirklichkeiten. Die Menschen werden den Unterschied zwischen diesen Welten sehr wohl wahrnehmen können und den Bezug zur Wirklichkeit nie hundert Prozent verlieren können, weil wir körperbehaftete Wesen sind und unsere Grundbedürfnisse befriedigen müssen. In den virtuellen Welten kann man Kaiser sein, mit Überlichtgeschwindigkeit in andere Planetensysteme fliegen und vieles mehr. In der echten Welt, wo es um Leben und Tod geht, muss man hingegen ganz anders auftreten – freundlich, bemüht, respektvoll.

STANDARD: Die virtuelle Welt soll also eine Chance sein, andere Dinge zu erleben?

Gebeshuber: Ja. Man muss nicht unbedingt überall immer das Original sehen. Besonders, wenn das Original so empfindlich ist und so leicht zerstört werden kann wie etwa ein Regenwald – von dem es nur einen gibt, und wenn der weg ist, ist er weg.

STANDARD: Kaum ein Thema beschäftigt die Menschheit aktuell so sehr wie die Corona-Pandemie. Wie wird uns die Krise in ein paar Jahrzehnten in Erinnerung bleiben?

Gebeshuber: Es hat schon viele große Krisen gegeben, die wir gut gemeistert haben. Bezüglich Corona habe ich absolutes Vertrauen in die Wissenschaft. In ein paar Jahrzehnten wird diese Pandemie genauso schnell vergessen worden sein wie verschiedenste andere Krisen. Das liegt zum einen daran, dass wir kein sehr gutes Langzeitgedächtnis haben. Zum anderen ist es ein Schutzmechanismus: Die meisten Menschen lassen unangenehme Erinnerungen gern hinter sich. Corona wird in ein paar Jahrzehnten Geschichte sein. Wir werden als Menschheit durch diese Krise wachsen und hoffentlich auch einmal erwachsen werden.

STANDARD: Angenommen, Sie könnten in die Zukunft reisen und einem Menschen des 22. Jahrhunderts begegnen. Wie würde dieser Mensch aussehen, und was würde er von unserer Zeit denken?

Gebeshuber: Er wäre groß gewachsen, hätte kaum mehr Haare auf dem Kopf und würde mithilfe seiner Implantate schon allein dadurch, dass er mich anschaut, viele meiner Gesundheitsparameter erfassen. Seine Kommunikation wäre überwiegend non-verbal, denn die akustische Sprache wird wahrscheinlich von der direkten Erfassung der Gehirnwellen verdrängt werden, einer Art telepathischer Kommunikation ohne Sprachbarrieren. Der Mensch der Zukunft wäre sehr nett und freundlich. Aber er wäre sich auch bewusst, dass ich eine Vertreterin von einer Periode der Menschheitsgeschichte bin, in denen die Menschen verschwenderisch und selbstsüchtig sind. Ich würde natürlich versuchen, unsere Zeit so gut es geht zu präsentieren und auch das viele Gute und Schöne herauszustreichen. Aber er würde mich manchmal wohl sehr traurig und mitleidig anschauen.

STANDARD: In diversen Umfragen aus der jüngsten Vergangenheit kommt immer wieder heraus, dass einige Menschen eher pessimistisch sind, wenn sie in die Zukunft blicken. Wird die Zukunft eine bessere sein?

Gebeshuber: Die Zukunft muss eine bessere werden. Weil die Alternative "Keine Zukunft für die Menschheit" ist. So gesehen haben die Pessimisten natürlich Recht. Wir stehen an einem Wendepunkt. Die kommenden Dekaden bis 2050 werden sehr wahrscheinlich zu den wichtigsten der Menschheitsgeschichte zählen. Sie werden einen Aufbruch in ein neues Zeitalter einleiten. Das bedeutet unter anderem auch, Abschied zu nehmen von so manchem selbstverständlich gewordenen Luxus, was auch wehtun wird. Aber im Endeffekt wird und muss es eine gute und schöne Zukunft werden. (Jakob Pallinger, 30.1.2021)