Joseph Mussil arbeitete einst im Wahlkampf von Präsident Van der Bellen (rechts), jetzt ist er bei Vizekanzler Werner Kogler (links). Dazwischen ging er in die Privatwirtschaft und sah Teile des Ibiza-Videos. Auch im Umfeld von Kanzler Kurz (Mitte) soll man Gerüchte vernommen haben.

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Im Mai 2019, wenige Tage vor Veröffentlichung des Ibiza-Videos, trifft ein Grüner, wohl ahnungslos, in einem Wiener Hotel einen der Drahtzieher der Ibiza-Aktion. Der Grüne, das ist Joseph Mussil, früher Wahlkampfmanager der Partei. Der Ibiza-Hintermann, das ist Julian H., der sich auf der balearischen Insel als Begleiter der falschen Oligarchennichte ausgab und den Dreh organisierte. Mussil ist zur Zeit des Treffens mit H. nicht für die Grünen aktiv. Nach dem erfolgreichen Wahlkampf von Bundespräsident Alexander Van der Bellen war er in die Privatwirtschaft gewechselt. Heute sitzt er im Kabinett des grünen Vizekanzlers Werner Kogler.

Bekennerschreiben

Die damalige Motivation von H. ist klar: Er hat Angst. Er weiß, dass "Spiegel" und "Süddeutsche Zeitung" das Video demnächst veröffentlichen, und fürchtet, was danach passieren könnte. H. behauptet, aus dem blauen Innenministerium bereits Drohungen erhalten zu haben. Mussil spielt er Teile des Videos vor und bittet ihn um Kontakt in die Präsidentschaftskanzlei, um dort eine Art Bekennerschreiben und ein Testament zu hinterlegen.

Mussil erzählt, H. habe über eine Kindergartenfreundin Kontakt zu ihm aufgenommen. Die Szenen des Videos, die ihm gezeigt wurden, seien "weder zuordenbar noch klar akustisch verständlich" gewesen. Die "Tragweite der Information" habe er damals nicht einschätzen können, beteuert Mussil. Er empfahl H., an die Büroleitung der Hofburg zu schreiben. "Damit war die Sache für mich erledigt", sagt der Grüne. Von dem Treffen und dem Video habe er nur seiner Lebensgefährtin erzählt.

Van der Bellen in Sotschi

Die Frage ist nun aber: Wann wurde der Bundespräsident über das Ibiza-Video informiert?

Am 16. Mai 2019, einen Tag vor Veröffentlichung des Videos, schickt H. eine E-Mail an einen engen Mitarbeiter Van der Bellens. Der Bundespräsident selbst war da gerade von einem Staatsbesuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi zurückgekehrt. Mitreisende Journalisten berichten, dort keine Gerüchte über das Video vernommen zu haben.

H. machte in seinem Schreiben an die Hofburg "vage Andeutungen" über eine bevorstehende Veröffentlichung "zum Thema Korruption", heißt es aus der Präsidentschaftskanzlei auf Anfrage des STANDARD. Außerdem habe H. geäußert, dass er mit Repressalien rechne. "Eine Antwort wurde nicht erbeten und erging auch nicht. Da der Inhalt zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehbar war, wurde das Schreiben – wie in solchen Fällen üblich – ad acta gelegt."

Der 16. Mai sei aber auch der Tag gewesen, so bestätigt der Pressesprecher Van der Bellens, an dem dem Bundespräsidenten Gerüchte zu Ohren gekommen sind, dass "irgendetwas im Busch" ist. Genaueres habe er nicht gewusst. "Die Inhalte des Ibiza-Videos sind dem Bundespräsidenten erst mit dessen Veröffentlichung bekannt geworden."

Im Hintergrund wird wegen einer anderen Angelegenheit schon lange darüber spekuliert, ob die Präsidentschaftskanzlei vorab Kenntnis über das Video hatte. Anhänger von Heinz-Christian Strache sammelten dazu auch vermeintliche Indizien.

Präsidialer Kalendereintrag

Fest steht: Eine unbekannte Person fotografierte den Outlook-Terminkalender des Bundespräsidenten ab und schickte das Dokument an einen Mittelsmann, der es Strache zeigte. Bei der Staatsanwaltschaft Wien läuft deshalb ein Verfahren gegen unbekannte Täter wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses. Vor der Staatsanwaltschaft bestätigte Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer die Echtheit des Kalenderausschnitts. Sie war zur Zeit des Ibiza-Videos als Kabinettsdirektorin bei Van der Bellen tätig.

Was man genau auf dem Kalenderausschnitt sieht, ist unbekannt. Aus dem Büro der Staatssekretärin heißt es, dass die Einträge aber "keinerlei Beweis eines Treffens mit irgendwelchen Hintermännern des Ibiza-Teams enthalten". Ein solches Treffen habe es nach Mayers Wissensstand "definitiv nicht gegeben".

Ähnliches ist hinter vorgehaltener Hand aus der Präsidentschaftskanzlei zu hören. So soll es zwar einen Kalendereintrag bezüglich eines "Videos" geben, dabei habe es sich aber um einen ganz anderen Termin gehandelt. Bei diesem Treffen sei ein Video besprochen worden, in dem Van der Bellen Bürger dazu aufruft, an der damals bevorstehenden EU-Wahl teilzunehmen.

Klar ist inzwischen: Die Ibiza-Hintermänner sind auf fast alle Parteien und verschiedene Politiker zugegangen, um über belastendes Material gegen Strache zu informieren oder es zu verkaufen – sie sagen, um mit diesem Geld jenen Bodyguard des früheren FPÖ-Chefs abzusichern, der gegen Strache heimlich Beweise sammelte.

Auch der Polizei war bereits vor dem Dreh des Videos bekannt, dass Material gegen Strache kursiert. Der Bodyguard hatte Fotos von Taschen voller Bargeld, die Dokumentation falscher Spesenabrechnungen sowie ein Haarbüschel, das Drogenkonsum beweisen sollte, gesammelt – den Drogenkonsum bestritt Strache stets.

Der Anwalt des Bodyguards, M., tingelte von Politiker zu Politiker, nahm Kontakt mit der Politischen Akademie der ÖVP, dem Anwalt der Volkspartei und einem hochrangigen Berater auf. Außerdem wandte er sich an die Neos, die SPÖ sowie das Bundeskriminalamt. Doch niemand war bereit, auf seine Bedingungen einzugehen, um das belastende Material zu erhalten.

Geld nach Veröffentlichung

Deshalb sollte etwas noch Spektakuläreres her – und aus diesem Entschluss wurde schlussendlich das Ibiza-Video. Auch damit ging Anwalt M. auf Promotour: Er versuchte sein Glück im Umfeld des Industriellen Hans Peter Haselsteiner, den Strache im Ibiza-Video für Staatsaufträge blockieren wollte; sprach mit dem roten Berater Niko Pelinka und nahm Kontakt zu Thomas Drozda (SPÖ) auf. Erneut zeigte niemand Interesse, die kolportierten Millionenbeträge für das Material zu bezahlen. Bislang nicht bekannt war, dass das Ibiza-Video auch jemandem aus dem Umfeld der ÖVP angeboten wurde – das behauptete "Regisseur" Julian H. zumindest diese Woche im Interview mit "SZ" und "Spiegel".

Im STANDARD-Interview erklärte H.: Nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos sei ihm Geld geboten worden, sollte er die SPÖ oder Haselsteiner belasten; also als Auftrag- oder Geldgeber nennen. Vollständig geklärt ist die Causa Ibiza wohl noch lange nicht. (Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 29.1.2021)