Am Donnerstagabend protestierten zahlreiche Menschen zwischen Innenministerium und Bundeskanzleramt gegen die Abschiebepraxis der Regierung.

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"Schweren Herzens gebe ich hiermit meinen Parteiaustritt zum nächstmöglichen Zeitpunkt bekannt", schreibt Günther Hagen, ein Oberarzt aus Wien. "Die Grünen sind meine Partei seit meiner Gymnasialzeit. Damals hießen sie noch Alternative Liste. Vor ein paar Jahren wurde ich vom Wähler zum passiven Parteimitglied. Weil die Grünen wie keine andere Partei in ihren Grundsätzen Umweltschutz, Gleichberechtigung und Sozialpolitik vereint sowie beständig gegen Nationalismus auftritt. Inzwischen verstößt die Parteiführung in einer Weise gegen die eigenen Grundsätze, die ich nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren kann. (...) Ich möchte weiterhin in den Spiegel schauen können und frage mich, wie ihr das schafft. Und es tut mir im Nachhinein leid um meine Wahlkampfspende. Deshalb Austritt."

Grüne Parteifreunde und Freundinnen kommentieren das mit Bedauern. Aber auch mit Verständnis. Die Art und Weise, wie die jüngsten Abschiebungen über die Bühne gegangen sind, treffen die Grünen ins Mark. Und sie stehen mit dem Rücken zur Wand. In den sozialen Medien werden sie dafür gegeißelt, mit der ÖVP in der Koalition zu sein und nichts gegen die Abschiebung der Schülerinnen unternommen zu haben.

Eine Brandrede des Schriftstellers Robert Menasse, in der er erbarmungslos mit den Grünen und ihrer Führung abrechnet, wird hundertfach im Netz geteilt und weitergereicht. "Mehr als 600.000 Wähler sind jetzt nicht mehr im Parlament vertreten", schreibt Menasse. "Und nach der nächsten Wahl seid ihr nicht mehr im Parlament – und ich werde nicht weinen. Ich brauche meine Tränen für so viel anderes (für das Ihr nicht mehr einsteht.)".

"Endlich wehren"

Wut und Zorn bei den Grünen sind groß. Über die ÖVP, aber auch über die eigene Parteiführung, die sich von der ÖVP zu wenig abgegrenzt und dem Bundeskanzler zu sehr nachgegeben habe. "Ein unmenschliches Abschiebungsregime, das Familien auseinanderreißt und hier geborene Kinder in ein ihnen unbekanntes Land verbannt, kann kein Selbstzweck sein", sagt die Nationalratsabgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic. Über die Vorgangsweise von Innenminister Karl Nehammer, der ihnen zugesichert hatte, sich den Fall wenigstens anzuschauen, als der Polizeibus schon wartete, ist sie wirklich erzürnt.

Ihr Kollege Michel Reimon macht seinem Ärger über die ÖVP Luft: "Bissl beichten und einmal im Jahr den Heiligen Drei Königen ein paar Netsch spenden, das reicht nicht." Viktoria Spielmann, Gemeinderätin der Grünen in Wien, sagt: "Die Vehemenz, mit der die ÖVP und Karl Nehammer an diesen Abschiebungen von Kindern festhalten und sich weigern humanitäres Bleiberecht zu ermöglichen, ist nichts anderes als eine knallharte Demonstration ihrer eiskalten Machtpolitik. Ich würde sagen, es ist Zeit, sich endlich zu wehren."

Keine Rückendeckung mehr

Wollen sich die Grünen wehren – und können sie sich überhaupt wehren? Es mehren sich die Stimmen, die fordern, die Koalition mit der ÖVP überhaupt aufzulösen. Im Hintergrund wird intensiv daran gearbeitet und darüber diskutiert, der ÖVP gegenüber wenigstens verbal etwas kantiger aufzutreten. Parteichef Werner Kogler hat das bereits getan, als er Innenminister Karl Nehammer kritisiert hatte, Klubchefin Sigi Maurer hat nachgezogen: Sie bezeichnete Nehammers Verhalten, der beteuert hatte, wie leid ihm solche Abschiebungen tun, als "Heuchelei".

Innerhalb der Grünen mehren sich auch die Stimmen, die Nehammer nun nicht länger Rückdeckung für den koalitionären Frieden gewähren wollen. Das gilt für die Baustelle im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) ebenso wie für die Aufarbeitung der Ermittlungspannen im Vorfeld des Terrorakts von Wien.

Auf der ÖVP-Seite sieht man das mit zunehmender Anspannung. Dass es auf grüner Seite derzeit Granada spielt, dafür habe man vollstes Verständnis. Es war bereits im Vorhinein klar, dass es hier zu einer Welle der Empörung kommen würde. Was man den Grünen angeboten habe: die Kommunikation abzustimmen. Dass die Grünen nun Kante zeigen würden und müssten, das gehöre zum Spiel. Die "Heuchelei" habe aber geschmerzt.

Nicht zulässige Einmischung

Dass dann auch noch Bundespräsident Alexander Van der Bellen ausgerückt ist, hat man bei der ÖVP als nicht zulässige Einmischung und als Anmaßung empfunden. Entsprechend hart war auch die Reaktion, als ÖVP-Klubchef August Wöginger den Bundespräsidenten höflich, aber doch entschieden ersuchte, die Unabhängigkeit der Justiz zu achten.

An ein Entgegenkommen denkt die ÖVP nicht. Eine Härtefallkommission zur Prüfung heikler Asylfälle auf Länder- und Gemeindeebene, wie sie Grünen fordern, oder Änderungen im Fremdenrecht stehen wohl somit nicht zur Debatte. Parteichef Sebastian Kurz sei immer ehrlich gewesen.

Das stimmt insofern, als der Kanzler immer klargemacht hatte, in Migrationsfragen nicht von seinem harten Kurs abzuweichen. Es werde kein Nachgeben geben. Das sei in den Koalitionsverhandlungen auch ausführlich zur Sprache gekommen – und eine überwiegende Mehrheit von 95 Prozent haben beim grünen Bundeskongress für die Koalition mit der ÖVP und den entsprechenden Pakt gestimmt.

Die Grünen, so heißt es aus der ÖVP, hätten genau gewusst, mit wem und worauf sie sich einlassen. In Migrationsfragen werde es kein Abweichen von der bisherigen Linie geben. Punkt. Dass es zu heiklen Fällen und schwierigen Diskussionen kommen werde, sei zumindest der ÖVP bewusst gewesen.

Im Übrigen, und das bestätigen Vertreter auf beiden Seiten, sei die Praxis nicht so grauslich, wie die nun diskutierten Fälle nahelegten. Im Hintergrund werden viele Fälle im Einvernehmen gelöst und Abschiebungen verhindert. Im vergangenen Jahr sei in 2500 Fällen von den Behörden ein humanitäres Bleiberecht gewährt worden, ohne dass diese Fälle öffentlich wurden.

Zartes Schwanken in der ÖVP

Aber auch in der ÖVP gibt es immer mehr Stimmen, die mit der Praxis und dem damit verbundenen Image der Partei nicht glücklich sind. Von EU-Parlamentarier Othmar Karas kam Kritik, Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner kam "ins Schwanken", Ex-ÖVP-Familienministerin Andrea Kdolsky wendet sich "mit Abscheu ab". Nehammer betonte am Freitag einmal mehr, dass alles rechtens gewesen sei und die Polizei nur einen Spruch der Höchstgerichte vollzogen habe.

Damit wollen sich die Grünen nicht abfinden, wie am Freitag auf vielen Ebenen beteuert wurde: Jetzt gibt’s ordentlich Gegenwind. Die Möglichkeiten sind aber minimal. Die ÖVP bewegt sich nicht – und so weit zu gehen, die Koalition infrage zu stellen, ist zumindest die Parteiführung nicht willens. Weder auf grüner noch auf türkiser Seite. Nicht in dieser Krise, heißt es, und da hören sich beide Seiten dann wieder ganz ähnlich an. (Jan Michael Marchart, Michael Völker, 30.1.2021)