Streamen als Teil der Theaterwirklichkeit. Regisseur Nuran David Calis hat die Kamera als Ensemblemitglied in die Inszenierung integriert. Im Bild mit Larissa Enzi.

foto: salzburger landestheater/anna-maria löffelberger

Corona hin, Pandemie her – es gibt durchaus auch noch andere wichtige Fragen des Mensch-Seins. Etwa jene, wie es sein kann, dass die Mehrheit wohl einer auf der Straße gestürzten Oma wieder auf die Beine helfen würde, die selbe Mehrheit aber die Aufnahme von Menschen aus den Elendslagern in Griechenland oder Bosnien ablehne. Ja mehr noch, wie es sein kann, dass die Menschen zur Abschreckung in Lagern konzentriert gehalten werden und dass man Menschen vorsätzlich im Meer ertrinken lasse; "damit nicht noch mehr kommen".

Solche und ähnlich gelagerte Fragen, werden aktuell im Stück #Ersthelfer#FirstAid auf der Bühne des Salzburger Landestheaters verhandelt. Das dokumentarische Stück von Regisseur Nuran David Calis nimmt dabei den Herbst 2015 in der Stadt Salzburg zum Ausgangspunkt. Salzburg wurde damals zum Kristallisationspunkt der Flüchtlingsbewegung; rund 300.000 Menschen – die Mehrheit davon aus dem bereits völlig zerstörten Syrien – wurden vom 1. September weg in Salzburg aufgenommen und später in ihr Zielland Deutschland weiter geleitet.

Zeitzeugen

Nuran David Calis, deutscher Autor und Theaterregisseur türkisch-armenisch-jüdischer Abstammung, lässt die vier jungen Ensemblemitglieder des Landestheaters (Larissa Enzi, Nikola Jaritz-Rudle, Skye MacDonald, Maximilian Paier) dazu ihr eigenes Erleben des Herbst 2015 erzählen, lässt sie aber auch in die Rolle von Zeitzeugen schlüpfen. Die Streamingkamera wird in den nachgestellten Interviews so plötzlich zum fünften Ensemblemitglied. Statt statischem Abfilmen agiert die Kamera, das Theaterstück bekommt filmischen Charakter.

Zeitzeugen werden interviewt. Im Bild Maximilian Paier.
foto: salzburger landestheater/anna-maria löffelberger

Zu den Zeitzeugen gehören 2015 direkt Involvierte wie etwa der damalige Leiter des Amtes für öffentliche Ordnung Michael Haybäck oder die Kinderfreunde-Helferin Vera Schlager. Eines wird in den Interviews schnell klar: Die staatliche Organisation hat versagt, ohne die vielen Freiwilligen, ohne der Stadt Salzburg und ohne den ÖBB hätte die Fluchtbewegung organisatorisch in einem Desaster geendet. Auch der aufgrund seines Auftrittes bei einer Identitären-Kundgebung österreichweit bekannt gewordene FPÖ-Gemeinderatsklubobmann Andreas Reindl kommt zu Wort. Das Interview mit Reindl wird freilich im O-Ton eingespielt, in diese Rolle wollte wohl kein Schauspieler, keine Schauspielerin schlüpfen.

Ex-Bürgermeister Heinz Schaden

Einer der wichtigsten Akteure war der damalige Bürgermeister Heinz Schaden (SPÖ). Dass es Regisseur Calis gelungen ist, Schaden auf die Bühne zu bringen, verleiht #Ersthelfer#FirstAid eine besonders authentische Färbung. Und der Werbeeffekt für den trotz seiner Verurteilung im Zuge des Salzburger Spekulations-Skandals immer noch überaus populären Schaden dürfte dem Landestheater auch gelegen kommen.

Ex-Bürgermeister Heinz Schaden ist in "#Ersthelfer#FirstAid" mehr als nur Zeitzeuge.
foto: salzburger landestheater/anna-maria löffelberger

Schadens Rolle erschöpft sich freilich nicht in der des Zeitzeugen. Wenn auf der Bühne über die Unmöglichkeit zur Hilfe, weil Fluchthelfer als Schlepper kriminalisiert werden, verhandelt wird, wenn die sogenannten "Europäischen Werte", die Goldene Regel oder den Kant'sche Imperativ thematisiert wird, ist auch Schadens Botschaft klar: Es brauche die Gegenerzählung, um Ängste vor den Fremden zu nehmen. Der Ex-Bürgermeister liefert diese anhand der Geschichte eines jungen Syrers, dem im Foltergefängnis die Fingernägel herausgerissen wurden, der aber heute ein Stipendium an einer US-Universität hat.

Alan Kurdi

Aber das Stück erzählt auch die Biographie von Alan Kurdi. Was würde der heute achtjährige Bub wohl in der Schule machen? Wie würde er sich als Tormann im Fußballverein seiner Schule behaupten? Würde er mit seiner Mama jemals nach Paris ins erträumte Disneyland kommen? Seine Biographie endet lange vorher: Alan Kurdi ist jener Bub, der am 2. September vor der türkischen Küste im Alter von zwei Jahren ertrunken ist und dessen Leiche an die Küste gespült worden war. Das Foto des toten Kindes ging daraufhin um die Welt.

Harte Kritik am Heute

Wer von der Hilfsbereitschaft der Salzburger und Salzburgerinnen 2015 erzählt, muss auch von der Xenophobie und Ablehnung gegenüber Vertriebenen heute sprechen. Calis weiß das und so kommt auch eine Flüchtlingshelferin via Skype zu Wort, die derzeit auf Lesbos arbeitet und vom Elend der Lager in Griechenland berichtet. Die Kritik an der türkis-grünen Bundesregierung ist deutlich und reicht bis zum Nachfolger von Heinz Schaden als Bürgermeister von Salzburg, Harald Preuner (ÖVP): Wie könne es sein, dass Preuner die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung 2015 so positiv hervorstreiche (auch im Vorwort zum Begleitheft für das Stück) und gleichzeitig die Politik von Sebastian Kurz unterstütze? (Thomas Neuhold, 31.1.2021)