Frankreich ist unter anderem in wirtschaftlicher Hinsicht weniger auf Nord Stream 2 angewiesen als Deutschland. Doch der Meinungsumschwung hat vor allem politische Gründe.

Foto: APA / AFP / ODD ANDERSEN

Sanktionen gegen Moskau genügen nicht mehr: Diese Botschaft schickte der französische Europastaatssekretär Clément Beaune am Montag über eine Pariser Radiostation Richtung Berlin. Auf die Frage, ob auch die neue Unterseepipeline Nord Stream 2 für russisches Gas gestoppt werden soll, meinte der enge Vertraute von Präsident Emmanuel Macron: "In der Tat, das haben wir schon gesagt."

Gesagt hatte es Paris allerdings noch nie so offen. Macron versucht zwar auf die Pipeline-Verfechterin Angela Merkel Rücksicht zu nehmen. In der Vergangenheit brachte er gewisse "Vorbehalte" an; insgesamt stellte er das Projekt, an dem auch der französische Energiekonzern Engie beteiligt ist, aber nie infrage. Jetzt äußert Beaune "die größten Zweifel" an dem Projekt, das sich, wie er betonte, "in Deutschland" befinde.

Aussprache beim Verteidigungsrat

Die Bekanntgabe des französischen Meinungsumschwungs erfolgt nicht von ungefähr vier Tage vor dem nächsten deutsch-französischen Verteidigungsrat, bei dem sich Merkel und Macron live aussprechen werden. Auch wenn Beaunes genau gewählte Formulierung den deutschen Standpunkt zu schonen sucht, ist die Ansage klar: Frankreich lehnt die zu fast 95 Prozent fertiggestellte Pipeline durch die Ostsee ab. Das Abrücken des französischen Partners ist für Merkel – und damit die Pipeline – womöglich wichtiger als die Einwände des EU-Parlaments oder der USA. Ohne die Unterstützung Macrons und damit der EU wird Nord Stream 2 wohl nicht fertiggestellt oder in Betrieb genommen.

Beaune begründete die französische Bekanntgabe mit der Niederschlagung der Nawalny-Proteste in Russland. Das klingt allerdings nach Vorwand. Frankreich nützt vielmehr die Gelegenheit, um ganz von einem Projekt abzurücken, das Macron seit einem halben Jahr kaum mehr unterstützt hat. Bis zum Sommer 2020 hatte er wie schon sein Vorvorgänger Nicolas Sarkozy mit einer "franko-russischen Partnerschaft" geliebäugelt. Während Berlin die Stirn runzelte, zeigte sich Präsident Wladimir Putin lächelnd interessiert; bloß unterließ er jeden Tatbeweis, sei es in der Ukraine, Syrien oder gegenüber internen Opponenten. Darüber tief frustriert, rückte Macron im September abrupt von Moskau ab, als er Nawalnys Vergiftung undiplomatisch direkt als "Mordversuch" bezeichnete.

Nähe zu den USA

Zugleich sucht Paris nach dem Trump-Abgang wieder die Nähe zu Washington. Frankreich braucht die neue, aber immer noch gegen Nord Stream eingestellte US-Regierung an mehreren Fronten. Das gilt für Macrons Steckenpferd einer globalen Digitalsteuer, aber auch für den Wüstenkrieg in Mali, wo die Amerikaner Luftbilder liefern, ohne die Frankreichs Elitetruppen am Boden weitgehend blind wären.

Das heißt keineswegs, dass Paris einfach so die amerikanische Rhetorik gegen Nord Stream 2 übernehmen würde. Aber Macron denkt geopolitisch. Und bei allem – geteilten – Interesse an einer starken deutsch-französischen Partnerschaft frönt Paris seit dem Brexit auch einem gewissen Rivalitätsdenken gegenüber Berlin. "Macron versucht ja, die Europäische Union handlungsfähiger und entscheidungsfreudiger zu machen", umschrieb der De-Gaulle-Biograf Johannes Willms die französischen Ambivalenzen in einem Interview. "Der Hintergrund bleibt aber, Frankreichs Führungsanspruch (in der EU, Anm.) zu behaupten."

Streit um europäische Armee

Den Gegenanspruch Berlins – und damit das Pipelineprojekt – zu torpedieren verlangt Paris deshalb keine unmenschliche Überwindung ab. Macron war ohnehin reichlich pikiert, als die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im November seinen Plan einer europäischen Armee als Illusion abtat. Das sei eine "Fehlinterpretation der Geschichte", die er "ganz und gar nicht" teile, ließ er die deutschen Freunde wissen.

In wirtschaftlicher Hinsicht ist Frankreich weniger auf Nord Stream 2 angewiesen als Deutschland: Ein Großteil des Stroms stammt aus der Atomenergie, auch geheizt wird in Frankreich meist elektrisch. Der einst staatliche französische Energiekonzern Engie müsste bei einem Baustopp zwar mehrere hundert Millionen Euro abschreiben. Das zählt aber kaum für die französischen Behörden, die sich derzeit ohnehin an einem innerfranzösischen Übernahmestreit mit Engies Beteiligung stören.

Wenn Clément Beaune nun erklärt, Nord Stream 2 erforderte letztlich eine "deutsche Entscheidung", will er damit nicht unbedingt sagen, dass sich Frankreich ihr anschließen würde. Sondern eher, dass Berlin heute isolierter denn je sei. (Stefan Brändle aus Paris, 1.2.2021)