Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser kritisiert im Gastkommentar das Spiel mit der Schuld: Die Skandalisierungen verursachen Frust.

Laut einer neuen Umfrage des Sora-Instituts sprechen sich 56 Prozent der im Gesundheits- und Pflegebereich Beschäftigten dafür aus, dass sich möglichst viele Kollegen und Kolleginnen gegen Covid-19 impfen lassen.
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Bis die Corona-Krise vorbei ist, bleib ich noch, dann suche ich mir einen anderen Job", sagen immer mehr Pflegekräfte. Wenig verwunderlich, stehen doch Alten- und Pflegeheime regelmäßig im Zentrum der Kritik. Nun ist es das Wegwerfen von Impfstoff, nachdem zuvor das Verimpfen von übrig gebliebenen Impfdosen an Personen, die weiter unten stehen auf der Priorisierungsliste, skandalisiert wurde. Ohrfeigen Nummer vier und fünf für die Pflegekräfte. Ohrfeige drei gab es zu Jahreswechsel für die zu geringe Impfbereitschaft, Ohrfeige zwei vor Weihnachten für die hohen Infektionszahlen und Ohrfeige eins im Frühjahr für überschießende Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen.

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Ja, es ist nicht gut, wenn Impfstoff weggeworfen wird oder begründete Priorisierungen nicht eingehalten werden. Genauso wie geringe Impfbereitschaft, hohe Infektionszahlen und Isolationsmaßnahmen nicht gut sind. Ja, man muss das alles kritisch reflektieren. Aber genau das passiert nicht. Stattdessen wird ein Spiel mit der Schuld gespielt, in dem die Pflegeheime immer das Bummerl haben.

Steigende Belastung

Erinnern wir uns: Im März 2020 fährt Österreich das gesellschaftliche Leben herunter. Altenheime schließen ihre Pforten für Besucher und Besucherinnen und oft auch für Bewohner und Bewohnerinnen. Im Mai dann der Aufschrei: Überschießend seien die Maßnahmen, die Menschenrechte der Bewohner und Bewohnerinnen würden verletzt. Derweil kämpfen sich die Heime durch Behördenvorgaben, die von Bundesland zu Bundesland, teilweise von Bezirk zu Bezirk, unterschiedlich und mitunter juristisch fehlerhaft sind. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen versuchen mit hohem persönlichem Engagement, die Isolation für Bewohner und Bewohnerinnen erträglicher zu machen, Angehörige zu informieren und über digitale Kanäle Kontakte zu ermöglichen. Masken und Schutzbekleidung sind Mangelware, es gibt keine Tests.

Über den Sommer gehen die Pforten der Heime auf – Gott sei Dank. Doch kommt mit Besuchern und Besucherinnen sowie Bewohnern und Bewohnerinnen, die das Haus verlassen hatten, das Virus in die Heime. Der nächste Aufschrei: Wieso werden die Pflegeheime nicht besser geschützt? Währenddessen unterziehen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen regelmäßig Tests und tragen ständig FFP2-Masken. Sie kümmern sich um Besucher-Management, ermöglichen Bewohnern und Bewohnerinnen Ausgänge, sorgen für sie in Quarantäne und bei Erkrankung. Arbeitsaufwand und Belastung steigen und steigen.

Keine Erleichterungen

Der Winter zieht ins Land, die Impfung erscheint als Hoffnungsschimmer am Horizont. Noch vor Zulassung des ersten Impfstoffs beginnen die Pflegeheime mit der Organisation: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Bewohner und Bewohnerinnen, Angehörige, gesetzliche Vertreter und Vertreterinnen informieren, Impfbereitschaft abklären, Ärzte und Ärztinnen suchen, die impfen. Die Erwartung: möglichst hohe Durchimpfungsraten. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind skeptisch, fühlen sich als Versuchskaninchen, können auch nicht mit Erleichterungen bei Tests oder Tragen von FFP2-Masken rechnen, weil nicht gesichert ist, ob Geimpfte nicht weiterhin das Virus übertragen können. Wieder ein Aufschrei: Wie können Pflegekräfte nur so verantwortungslos sein? Die Frage steht im Raum, ob es nicht zweckdienlich wäre, wenn sich Personen in verantwortlichen Positionen impfen lassen würden, quasi als Vorbilder.

Die Impfungen beginnen. Es stellt sich heraus, dass statt der vom Hersteller angegebenen fünf sechs bis sieben Dosen aus einem Fläschchen gezogen werden können. Die Heime sollen dafür Sorge tragen, dass kein Impfstoff weggeworfen wird. So steht es in einem Manual des Sozialministeriums. Konkrete Vorgaben, an wen übrig bleibende Dosen verimpft werden sollen, gibt es keine. Klar ist nur: Gelieferter Impfstoff kann maximal fünf Tage im heimeigenen Kühlschrank gelagert werden; ist ein Fläschchen angebrochen, muss der Inhalt binnen drei Stunden verimpft werden.

Hohe Durchimpfung

Klar ist auch: Was keinesfalls geht, ist, mehr Impfstoff zu bestellen, damit Prominente früher zu einer Impfung kommen. Schon gar nicht gegen Spenden. Das wäre Korruption. Gleichwohl muss man nüchtern sehen: Es lässt sich nicht vermeiden, dass Impfstoff übrig bleibt. Denn er muss mindestens eine Woche vor dem Impftermin bestellt werden – und innerhalb dieser Woche können Personen krank oder vielleicht noch für eine Impfung gewonnen werden. Wir erinnern uns: Hohe Durchimpfung ist das Ziel. Wenn man nicht will, dass Impfstoff weggeworfen wird, braucht es die berühmten Backlisten. Es kann nicht die Aufgabe der Pflegekräfte sein, die über 80-Jährigen in einer Gemeinde durchzutelefonieren. Also setzen Heime ihnen bekannte Personen, die im Fall des Falles zuverlässig greifbar sind, auf die Listen. Und wieder gibt es einen Aufschrei.

Skandalisieren ist ja auch einfacher, als Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung übernehmen heißt handeln: unter konkreten Umständen und in unübersichtlichen Situationen, unter Zeitdruck und Zeitknappheit, mit Vorgaben, die aber nicht alles abdecken, angesichts von Dilemmata und der Notwendigkeit abzuwägen, immer in der Gefahr Fehler zu machen. Pflegeheime tun das. Bevor ihr aufschreit – fragt sie, wie es ihnen geht. Fragt nach ihrer Situation und den Umständen. Vor allem wenn ihr die Pflegekräfte nicht verlieren wollt. Der Frust, den diese Skandalisierungen verursachen, kann durch keine Kampagnen zur Attraktivierung des Pflegeberufs wettgemacht werden. (Maria Katharina Moser, 2.2.2021)