In den Öffis lässt sich nur schwer umsetzen, was nächste Woche im Handel gilt: 20 Quadratmeter pro Person und ein Mindestabstand von zwei Metern.

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Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Medizin stehen den von der Regierung gesetzten Lockerungen, die ab nächster Woche gelten, kritisch gegenüber – etwa der Komplexitätsforscher Stefan Thurner vom Complexity Science Hub. Grund dafür ist die starke Zunahme der britischen Virusmutation. "Die Fallzahlen gehen nicht runter, die englische Mutante nimmt zu. Das bedeutet zwar einerseits, dass wir die klassische Variante relativ gut unterdrücken, was positiv ist, andererseits aber die Mutante in den kommenden Wochen übernehmen wird. Da diese aber, soweit wir wissen, ansteckender ist, werden die Fälle auch ohne Lockerungen wieder zunehmen und die Zahlen damit wieder hinaufgehen."

Ein Befürworter der Öffnungsschritte ist hingegen der Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter von der Med-Uni Wien: "Wir können aktuell einen stetigen Abwärtstrend beobachten. In dieser stabilen epidemiologischen Situation sind Lockerungen unter der Einhaltung von Maßnahmen möglich." Er hält die FFP2-Masken-Pflicht sowie den erweiterten Mindestabstand auf zwei Meter für probate Mittel um, den neuen Virusvarianten Einhalt zu gebieten. Die Öffnungsschritte seien notwendig, so Hutter, weil die negativen Begleiterscheinungen des Lockdowns weiter zunehmen – etwa psychische und soziale Probleme bei Kindern und Erwachsenen, darunter verstärkt negative Verhaltensweisen wie erhöhter Alkoholkonsum oder mangelnde Bewegung.

Dass die Zahlen gesenkt werden konnten, müsse auch für die Bevölkerung als Erfolg dargestellt werden, so Hutter. "Wir alle gemeinsam haben es geschafft, von einer prekären Situation, die sich in den Spitälern und den Todeszahlen gezeigt hat, wieder auf ein deutlich niedrigeres Niveau zu kommen. Eigentlich sollte sich die Politik bei den Menschen bedanken", so der Experte. Er hofft, dass viele Menschen diesen Erfolg als Ansporn sehen, weiter dabeizubleiben und die Maßnahmen mitzutragen. Eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100, bei der Österreich derzeit steht, hält Hutter für das Contact-Tracing hierzulande für beherrschbar.

Verbreitung unklar

Michael Wagner, Mikrobiologe an der Uni Wien, sieht die Öffnungen weitaus kritischer: Man gehe damit ein großes Risiko ein, sagt er, da die Verbreitung der ansteckenderen Varianten derzeit unklar sei. Es sei "sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen wieder ansteigen", möglicherweise sogar schneller als bisher vermutet. "Die Frage ist, ob die zusätzlich getroffenen Maßnahmen ausreichen, um diese Beschleunigung zu kompensieren."

Stefan Thurner, Michael Wagner, Thomas Czypionka und Dorothee von Laer sind Mitglieder im Corona-Fachrat des STANDARD.
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Aus rein epidemiologischer Sicht wäre es besser gewesen, zuerst das gesetzte Ziel der Sieben-Tage-Inzidenz um die 50 zu erreichen, bevor mit Öffnungen begonnen werde. Der Experte versteht jedoch auch die wirtschaftlichen und psychologischen Gründe, die nun zur Lockerung geführt haben. Ähnlich sieht das Komplexitätsforscher Thurner: So sehr er die Lockerungen begrüßen würde und nachvollziehen kann, wieso die Politik "den Stress herausnehmen will", müsse man sich gerade jetzt umso mehr dessen bewusst sein, dass wir uns in einer kritischen Situation befinden.

Falsche Strategie

Thomas Czypionka, Head of Health Economics and Health Policy am Institut für Höhere Studien, kritisiert die generelle Vorgehensweise: "Wir konnten die Zahlen bisher zu wenig senken, das hängt mit der Kommunikation an die Bevölkerung zusammen und ihrer Motivation." Anstatt immer wieder Termine zu nennen, an denen gelockert wird, sollten Zielzahlen vorgegeben werden, und wenn diese erreicht sind, wird geöffnet. "Dann haben die Menschen das Gefühl, sie arbeiten auf etwas hin", sagt Czypionka und bekräftigt, dass diese Strategie bereits vor Monaten hätte umgesetzt werden müssen.

Dieser Meinung ist auch Dorothee von Laer, Leiterin des Instituts für Virologie an der Medizinischen Universität Innsbruck: "Die Menschen sollten weniger die Termine im Kopf haben, sondern mehr die Infektionszahlen. Derzeit mogeln sich alle irgendwie durch die Zeit der Lockdowns, und ihnen ist im Prinzip egal, was dabei rauskommt."

Czypionka ist daher auch der Meinung, dass weitere Verschärfungen zum jetzigen Zeitpunkt wenig bringen würden. Er ist dennoch kein Befürworter der Öffnungen, da das Contact-Tracing bereits jetzt an seine Grenzen gelange, wie er sagt – ergänzt aber: "Wenn ich etwas öffnen würde, dann wären es die Volksschulen, weil dort Distance-Learning nicht funktioniert – Präsenzunterricht sollte allerdings nur in der Kombination mit regelmäßigen Tests stattfinden", so der Experte.

Auf Schließungen einstellen

Apropos: Eine der wichtigsten Änderungen ab nächster Woche betrifft die Schulen, die Volksschulen kehren komplett in den Präsenzunterricht zurück, in Unter- und Oberstufen gibt es Schichtbetrieb. "Der Schulunterricht wurde noch nie so stark mit Maßnahmen begleitet, wie das ab nächster Woche geplant ist", sagt dazu von Laer. Dennoch hält sie die Lockerungen insgesamt für ein Wagnis: "Es ist sicher richtig, sich bereit zu machen, auch wieder Schließungen vorzunehmen", sagt sie.

Public-Health-Experte Hutter hätte sich in den Schulen hingegen noch mehr Öffnungen gewünscht: "Es ist eine Minimallösung, dass Unter- und Oberstufe nur an zwei Tagen pro Woche in den Präsenzunterricht zurückkehren." Mit den übrigen geplanten Maßnahmen und konsequentem Lüften wäre hier auch mehr möglich gewesen, sagt er. Zudem fordert er, es gleichzeitig mit der Öffnung der Schulen auch Sportvereinen wieder möglich zu machen, mit Kindern und Jugendlichen in kleinen Gruppen zu trainieren: "Hier gibt es sehr strenge Sicherheitskonzepte, die das möglich machen." Dieser Schritt wäre dringend notwendig, weil Österreich in puncto Bewegung schon vor der Pandemie sehr schlecht dastand, so der Experte.

Regeln kontrollieren

Andere Öffnungsschritte betreffen Museen, Zoos und den Handel, ebenso werden tagsüber Treffen von zwei Haushalten erlaubt. Von Laer dazu: "Die Öffnung von Museen, Zoos oder Geschäften ist meiner Meinung nach wenig problematisch, weil man dort in der Lage ist, die Regeln sehr gut zu kontrollieren. Bei privaten Zusammenkünften ist das anders."

Hutter kritisiert die strengen Maßnahmen, die für den Handel vorgesehen sind: FFP2-Masken, zwei Meter Abstand und höchstens ein Kunde pro 20 Quadratmeter. "Dieses enorm hohe Sicherheitsniveau ist überzogen. Es wird schwerfallen, der Bevölkerung die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen zu erklären – in Supermärkten oder Öffis ist das schließlich auch nicht der Fall. Man kann nicht begründen, warum da mit zweierlei Maß gemessen wird." Letztlich werde das zu Konflikten führen.

Zudem würden die Menschen, wenn sie Maßnahmen nicht nachvollziehen können, aufhören, sich daran zu halten, so der Experte. Dabei gehe es gerade jetzt darum, die pandemische Müdigkeit in der Bevölkerung zu mildern. Er gibt zudem zu bedenken, dass dieses hohe Sicherheitsniveau bei weiteren Öffnungsschritten kaum umsetzbar sei, etwa im Kino und Theater oder bei anderen Veranstaltungen.

Besser reagieren

Generell kritisiert Thomas Czypionka die stark verteilte Verantwortung, die in Österreich in dieser Pandemie vorherrscht: "Alles sollte aus einer Hand kommen. Es bräuchte einen Koordinator mit Durchgriffsmöglichkeit, 'Surgeon General' würde das in den USA heißen. Stattdessen wird Verantwortung bei uns hin und her geschoben, doch diese zersplitterten Kompetenzen fallen uns jetzt auf den Kopf."

Und Thurner fordert das rasche Erkennen der ersten Warnsignale und ein umso zügigeres Reagieren. Denn während man in den asiatischen Ländern und dem pazifischen Raum gelernt habe, binnen 24 Stunden zu reagieren und Maßnahmen innerhalb kürzester Zeit zu verschärfen, sieht der Experte in Österreich hier Aufholbedarf. Gezeigt habe sich das etwa vergangenen Oktober. Damals hatte das Konsortium, das wöchentlich Prognosen zum Verlauf der Pandemie sowie zu den aktuell verfügbaren Kapazitäten im Spitalsbereich erstellt, zu schnellen Maßnahmen geraten. Bis diese tatsächlich umgesetzt wurden, vergingen aber zwei Wochen. (Julia Palmai, Bernadette Redl, 3.2.2021)