Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbricht, schaut jeder nur mehr auf sich, befürchtet Monika Mokre.

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Das Thema Solidarität beschäftigt Monika Mokre nicht erst seit der Corona-Krise. Aber jetzt erst recht: Vergangenen Dezember hat die Politik- und Kommunikationswissenschafterin an der Akademie der Wissenschaften das Forschungsprojekt "Prekarität und Solidarität in Zeiten von Covid-19" abgeschlossen.

Darin sammelte und analysierte sie internationale Maßnahmen für prekäre Bevölkerungsgruppen, wie etwa die Einführung von Mindestlöhnen, die Legalisierung irregulärer Migrantinnen und Migranten oder die Entlassung von Schubhaft- und Strafgefangenen. An der schwierigen Lage vieler Menschen zeigt sich, dass die Solidarität zunehmend Risse bekommt.

STANDARD: Wie definiert sich Solidarität genau?

Monika Mokre: Solidarität hat viel damit zu tun, dass alle das gleiche Risiko haben und gemeinsam versuchen, dieses Risiko abzudecken. Stichwort Sozialversicherungssystem: Es kann uns allen etwas passieren, und das decken wir ab, wobei der solidarische Gedanke der ist, dass auch jene einzahlen, denen nichts passiert. Das ist der grundsätzliche Gedanke, den wir auch stark im Nationalen drin haben. Im ersten Lockdown gab es einen emotionalen Aufschwung und ein Gefühl des Zusammenhalts, das auf etwas beruhte, was wir schon kennen, nämlich dem Nationalen. Wenn eine schwierige Phase dann aber länger dauert, bricht so etwas leicht auf. Deshalb ist die Institutionalisierung wichtig, wie etwa bei der Sozialversicherung. Ich glaube nicht, dass Solidarität an sich grenzenlos ist.

STANDARD: Ist das Konzept nach einem Jahr Covid überstrapaziert?

Mokre: Das würde ich so sagen. Vor allem hat jeder irgendwelche Probleme. Familien mit Kindern im Homeschooling sind damit völlig am Limit. Es gibt Leute, die allein leben und das nicht mehr aushalten oder in Kurzarbeit sind und in ihren Jobs sehr wenig verdienen. Wir haben alle etwas zu klagen, wir haben alle etwas verloren aus unserem normalen Leben. Wir sind in einer Situation, in der eine Art Panik oder Depression um sich greift. Wenn es dann etwas gibt, das mich da rausholen kann, etwa die Impfung, beginne ich, mit Zähnen und Klauen um diese Impfung zu streiten.

STANDARD: Wie es etwa an der internationalen Verteilung des Impfstoffs sichtbar wird?

Mokre: Der Solidaritätsbegriff wird interessanterweise sehr national gedacht, auch wenn es um die Solidarität zwischen Individuen geht. Wir sprechen von einer Pandemie, das ist weltweit. Trotzdem wird das Thema national aufgeladen und gehandhabt. Denn die nationale Solidarität ist die, die am besten funktioniert.

STANDARD: Was braucht man selbst, um überhaupt solidarisch handeln zu können?

Mokre: Eine gewisse Sicherheit in der eigenen Positionierung und ein Minimum der Möglichkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Deshalb ist es wichtig, dass es persönliche Begegnungen gibt und man persönliche Geschichten hört.

STANDARD: Machen uns der Lockdown und die oft mit ihm einhergehende Isolation unsolidarischer? Oder umgekehrt: Brauchen wir Sozialkontakte, um ein Solidargefühl zu entwickeln?

Mokre: Mir kommt vor, wir leben in einem neuen Biedermeier. Wir sitzen mit unseren Familien daheim, so wir welche haben, oder treffen ganz begrenzt Leute. Solidarität hat aber viel mit Begegnungen zu tun, die nicht so eng sind. Früher hat man auch im Gasthaus einmal mit Leuten am Nebentisch geredet. Aber all das sollen oder können wir nicht tun.

STANDARD: Worin liegt Ihres Erachtens derzeit die größte Gefahr für die Solidarität?

Mokre: Darin, dass uns jede Kohäsion zerbrechen kann, sogar in einer nationalen Gemeinschaft. Das führt zu einer totalen Vereinzelung, und jeder schaut nur noch auf sich. Was immer problematischer wird, ist, dass sich alle Maßnahmen und Überlegungen der Solidarität nur auf Covid fokussieren und alles andere außen vor bleibt. Geflüchtete hereinzulassen ist überhaupt kein Thema mehr, jetzt gibt es sogar noch ein weiteres Argument dagegen.

STANDARD: Wo sehen Sie die Politik in der Pflicht?

Mokre: Es muss mehr Beachtung der Rechtsstaatlichkeit geben und nicht weniger. Man muss nicht weniger, sondern mehr Transparenz entwickeln. Denn in vielerlei Hinsicht wird diese Situation ausgenützt – nicht nur bei gefälschten FFP2-Masken. Das Universitätsgesetz jetzt durchzupeitschen ist ein Ausnützen der Situation, das nicht zum Vertrauen in einen Staat beiträgt. Es ist auch zu hinterfragen, dass es Abschiebungen in Länder mit hoher Covid-Gefahr gibt.

STANDARD: Lässt sich dafür zumindest Aufmerksamkeit erzeugen?

Mokre: Die Öffentlichkeitsarbeit ist sehr viel schwieriger geworden, da man sich einmal gegen das Dauerthema Corona durchsetzen muss. Viele Informationen sind zudem äußerst schwierig zu bekommen. Ich habe auch eher durch Zufall erfahren, dass in der Schubhaft derzeit jeder Besuch verboten ist, ausgenommen eine Woche vor der Abschiebung durch engste Familienangehörige. Diese Leute haben nichts angestellt, außer dass sie hier sind. All jene, die ohnehin schon ausgegrenzt sind, haben es jetzt noch schwerer. Das trifft auch Menschen mit psychischen Problemen oder Menschen im Gefängnis. Da schaut einfach keiner mehr hin.

STANDARD: Weshalb fällt das in der jetzigen Situation so schwer?

"Die Pandemie wird national aufgeladen und gehandhabt. Die nationale Solidarität ist die, die am besten funktioniert." Monika Mokre
Foto: IKT / Stefan Csáky

Mokre: An einem Punkt, an dem das eigene Leben so prekär wird, kann oder will man mit anderen Prekaritäten nicht mehr umgehen. Vielleicht ist die aktuelle Situation auch gar nicht so furchtbar, aber für Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, ist es gesamtgesellschaftlich schon das Heftigste, das ihnen je passiert ist.

STANDARD: Nagt auch die Angst am gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Mokre: Da kommt, abhängig von der individuellen Situation, derzeit vieles zusammen. Es gibt Leute, die die größte Angst davor haben, ihren Job zu verlieren, andere haben große Angst vor der Infektion. Es hängt viel mit dem Umstand zusammen, sich im eigenen Leben nicht wohlzufühlen. Es braucht eben einen gewissen Grad an persönlicher Stabilität, um solidarisch sein zu können.

STANDARD: Was wünschen Sie sich und uns als Gesellschaft für die nähere Zukunft, die wir noch in dieser Situation verbringen?

Mokre: Ich würde es für wichtig halten, die konkreten Lockdown-Vorschriften zu diskutieren. Etwa: Wenn ich meine Familie sehen darf, was heißt das für Menschen, die keine Familie haben? Man sollte anerkennen, wer in dieser Situation wie betroffen ist, und das thematisieren. Hier würde ich mir wünschen, dass wir zu einer ehrlichen Kommunikation über unsere Probleme kommen, die von gegenseitiger Anerkennung geprägt ist. (Marlene Erhart, 7.2.2021)