Mehr als 6.000 jesidische Frauen und Kinder wurden vom "Islamischen Staat" verschleppt, noch immer ist das Schicksal vieler von ihnen nicht aufgeklärt.

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Gesetz für weibliche jesidische Überlebende" wurde der Entwurf genannt, als er vor fast zwei Jahren erstmals ins Parlament eingebracht wurde: Ein bahnbrechendes Stück irakischer Gesetzgebung sollte es werden, das die tausenden Verschleppungs- und Vergewaltigungsopfer einer der ältesten ethnoreligiösen Gemeinschaften des Irak, die der "Islamische Staat" (IS) in einem Genozid vernichten wollte, etwas absichern sollte, etwa mit Anstellungen im öffentlichen Bereich und Finanzhilfen. Aber soeben ist wieder einmal ein Termin im Parlament in Bagdad verstrichen. Diesmal scheiterte die Verabschiedung des Gesetzes an der Zahl der anwesenden Abgeordneten.

Mindestens 6.000 jesidische Frauen und Kinder wurden entführt, als der IS 2014 den Bezirk Sinjar, auf jesidisch Shingal, im Nordwestirak eroberte. Viele davon bleiben bis heute verschwunden. Männer wurden meist gleich umgebracht, Frauen und Mädchen wurden von IS-Kämpfern, auch aus Europa kommenden, versklavt. Sexuelle Gewalt gegen Minderheiten gehörte zu den Kampfmitteln des IS. Bis heute leben viele der Überlebenden in Camps, die Rückkehr nach Sinjar geht nur zaghaft vonstatten. Sie wurde jedoch im vergangenen Jahr von der Covid-19-Pandemie – angesichts der schlechten sanitären Verhältnisse in den Lagern – etwas beschleunigt.

Das irakische Gesetz, das weiter auf sich warten lässt, trägt inzwischen anstelle ausschließlich der Jesidinnen die "irakischen weiblichen Überlebenden" im Titel. Es ist richtig, dass sexuelle Gewalt des IS auch andere Frauen betroffen hat, weswegen Menschenrechtsgruppen gefordert hatten, das Gesetz breiter anzulegen. Inzwischen wird aber besonders von jesidischen Aktivistinnen die Gefahr der Verwässerung gesehen.

Kinder von IS-Tätern

Laut dem kurdischen Medium "Rudaw" gibt es auch Bedenken des Jesidischen Geistlichen Rates in Bezug auf einen Artikel des Gesetzes, das die Religionszugehörigkeit von Kindern aus solchen Vergewaltigungen nach irakischem Recht regelt: Demnach sind Kinder, deren Vater unbekannt ist, als Muslime zu betrachten, wenn nicht das Gegenteil bewiesen wird.

Die Kinder aus den IS-Vergewaltigungen sind eine schmerzhafte Frage für die jesidische Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten streng endogam lebt, das heißt, Eheschließungen außerhalb der eigenen ethnoreligiösen Gruppe nicht erlaubt: Können die Kinder extremistischer islamistischer Väter je zur jesidischen Gemeinschaft gehören? Der irakische Staat würde mit dem Gesetzespassus ihre – oft stillschweigende – Integration nicht einfacher machen.

Im Irak wird die gesetzliche Aufarbeitung der Jahre, in denen der IS bis zu vierzig Prozent des irakischen Territoriums kontrollierte oder bedrohte, bisher der Antiterrorgesetzgebung überlassen. Es fehlt auch generell jegliche Erfahrung oder Gesetzeskultur, was den Schutz von Frauen vor sexueller häuslicher Gewalt betrifft. Das macht die Arbeit der NGOs für weibliche Gewaltopfer nicht einfacher – etwa der Organisation für die Freiheit der Frau im Irak (OWFI), die sogar schon einmal vom irakischen Ministerrat beschuldigt wurde, im Widerspruch zum im Irak geltenden Familienrecht zu agieren.

In der Diaspora

Auch die jesidische Gemeinschaft ist grundlegend konservativ, die IS-Aggression war jedoch ein brutaler Einschnitt. Laut Schätzungen des Büros für jesidische Angelegenheiten in Dohuk im Nordirak sind seit 2014 mehr als 100.000 Jesiden und Jesidinnen allein nach Europa geflüchtet. Viele wollen jedoch zurück, weil sie sich in der Diaspora nicht gut einleben. Gleichzeitig bleibt die Situation in den irakischen Auffanglagern äußerst prekär, die Selbstmordrate vor allem unter jungen Menschen ist hoch.

Im Oktober 2020 haben sich die kurdische Regionalregierung in Erbil und Bagdad auf ein Verwaltungs- und Sicherheitspaket für Sinjar geeinigt, das die Rückkehr von Jesiden und Jesidinnen in ihr Gebiet erleichtern soll. Vor allem sollte die Aufstellung eigener Sicherheitskräfte dafür sorgen, dass Milizen jeglicher Art von dort verschwinden: Nachdem der "Islamische Staat" – der sich zuletzt wieder mit erhöhter Terrorismusaktivität zurückmeldet – geschlagen war, machten sich dort schiitische Milizen breit, die von allen Nichtschiiten gefürchtet sind.

Aber auch die türkisch-kurdische PKK ist in dem Gebiet aktiv – was zu einem starken Interesse Ankaras am Sinjar-Abkommen führt. Die Türkei startete im Sommer 2020 eine neue Offensive gegen die PKK im Irak, bei der auch Zivilisten und irakische Sicherheitskräfte getötet wurden. Es gibt auch eine PKK-nahe jesidische Miliz, die "Sinjar-Verteidigungseinheiten", die von der Türkei angegriffen wird, obwohl sie offiziell sogar unter dem Dach der irakischen Armee steht. Vor zwei Wochen besuchte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar Erbil und danach Bagdad, um Spannungen auszuräumen. (Gudrun Harrer, 3.2.2021)