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Unterstützer Nawalnys gingen auf die Straße – es kam zu Verhaftungen.

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Nawalny musste für die Verhandlung in eine Glaszelle.

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Bei der Urteilsverkündung machte Nawalny eine sarkastische Herz-Geste.

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Bereits im Vorfeld der Urteilsverkündung wurden öffentliche Plätze in russischen Städten bewacht.

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"Einen sperrt ihr ein, um Millionen einzuschüchtern" – Alexej Nawalny hatte in seinem Schlussplädoyer wenig Illusionen bezüglich des Urteils. Er sollte recht behalten. Am Ende eines strapaziösen Verhandlungstags gab das Moskauer Gericht am Dienstag dem Antrag der Gefängnisverwaltung auf Umwandlung seiner Bewährungs- in eine Haftstrafe statt. Der prominente Kreml-Kritiker muss für dreieinhalb Jahre in Haft, wobei ihm knapp ein Jahr an bereits verbüßter Strafe angerechnet wird. Nawalnys Anwalt kündigte an, Einspruch erheben zu wollen.

Nach dem Urteil kam es in vielen russischen Städten zu Protesten, die Sicherheitskräfte gingen mitunter gewaltsam gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vor. Insgesamt wurden mehr als 1.400 Menschen festgenommen. Allein in Moskau habe die Polizei 1.116 Protestierende in Gewahrsam genommen, in St. Petersburg gab es 246 Festnahmen, teilte die Nichtregierungsorganisation OWD-Info mit. Zahlreiche Menschen wurden zudem verletzt, in einigen Fällen hätten sich die Sicherheitskräfte geweigert, medizinische Hilfe zu organisieren.

Erneut gerieten auch Journalisten ins Visier der Einsatzkräfte. Es gab mehrere Festnahmen. In einem Video war zu sehen, wie ein Beamter der auf Anti-Terror-Einsätze spezialisierten Sonderpolizei Omon auf einen Medienvertreter einschlug, der dann am Boden liegen blieb. Bereits an den zwei vergangenen Wochenenden hatten im ganzen Land zehntausende Menschen demonstriert, mehr als 5.000 wurden festgenommen. Mehrfach gab es bereits Kritik wegen der Polizeigewalt.

Internationale Kritik

Die USA forderten die sofortige Freilassung Nawalnys sowie jener, die bei den Demonstrationen festgenommen wurden. Man sei "äußerst besorgt", sagte Außenminister Antony Blinken. Die USA würden sich eng mit ihren Verbündeten abstimmen, "um Russland zur Rechenschaft zu ziehen".

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bezeichnete Nawalnys Verurteilung als "inakzeptabel" und forderte "seine sofortige Freilassung sowie ein Ende der Gewalt gegen friedliche Demonstranten". Auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) nannte die Verurteilung auf Twitter "willkürlich".

Andreas Schieder, SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, bezeichnete Nawalny im Ö1-"Journal um acht" als "größte Gefahr" für Putins Machtanspruch. Die Verurteilung zu einer Haftstrafe sei "nicht rechtens", ebenso wenig die hunderten Festnahmen von Menschen, die lediglich für Demokratie demonstrieren würden. "Wir müssen darüber nachdenken, das Pipelineprojekt Nord Stream 2 zu stoppen und so den Druck auf Moskau zu erhöhen", forderte Schieder mit Blick auf die EU.

Richter-Rücktritt vor Prozessbeginn

Die erste Pointe hatte der Prozess schon vor Verhandlungsbeginn geboten: Wjatscheslaw Detischin, der Leiter des Moskauer Bezirksgerichts Simonowski, das den Fall am Dienstag – allerdings wegen des Medienaufkommens im Gebäude des Moskauer Stadtgerichts – anhörte, hatte vor Prozessbeginn seinen Rücktritt eingereicht. Ob ein direkter Zusammenhang mit dem Nawalny-Verfahren besteht, wollte das Gericht nicht kommentieren. Eine andere Richterin sprang ein.

Konkret ging es darum, ob und wie sich Nawalny während seiner Reha in Deutschland bei der Moskauer Polizei regelmäßig hätte registrieren müssen. Eine Krankschreibung ist noch kein triftiger Grund zum Fehlen – zumindest nicht nach Ansicht der russischen Justiz. 60-mal habe Nawalny gegen die Bewährungsauflagen verstoßen, lautete die Anklage. Der Großteil der Vorwürfe stammt aus der Zeit, als sich Nawalny in Deutschland aufhielt. Die Verteidiger versuchten zu beweisen, dass Nawalny bis November krankgeschrieben war und die Behörden darüber auch schriftlich informiert hatte.

Vergiftung mit Nowitschok

Der gebürtige Moskauer ist der härteste Kritiker von Präsident Wladimir Putin in Russland. Als er im August während einer Wahlkampf- und Recherchereise durch Sibirien auf dem Rückflug zusammenbrach, wurde er zunächst in einem Krankenhaus in Omsk behandelt. Später konnte seine Frau Julia seine Ausreise nach Deutschland durchsetzen, wo er im Berliner Universitätskrankenhaus Charité geheilt wurde. Putin erklärte im Dezember auf seiner Jahrespressekonferenz, er persönlich habe die Erlaubnis gegeben, da Nawalny wegen seiner Vorstrafen ansonsten nicht hätte ausreisen dürfen.

Ein Bundeswehrspeziallabor stellte fest, dass der 44-Jährige mit einem chemischen Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden war. Labore in Frankreich und Schweden sowie Experten der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen bestätigten das. Russland zweifelt es nach wie vor an.

Politische Motivation

Beobachter betrachten die Umwandlung der Bewährungs- in eine Haftstrafe als politisch motiviert. Zumal auch der Ausgangsprozess 2014 gegen Alexej Nawalny und seinen Bruder Oleg um angeblichen Betrug am französischen Kosmetikhersteller Yves Rocher als dubios gilt. Konzernvertreter konnten keinen Schaden feststellen. Alexej erhielt damals dreieinhalb Jahre auf Bewährung, während sein Bruder die Haft antreten musste.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte den Prozess 2017 als unfair und das Urteil als willkürlich eingestuft und Russland zu Schadenersatz verurteilt. Paradox: Russland hat die Entschädigung ausbezahlt, das Urteil aber nicht revidiert. Der Fall hat längst außenpolitische Dimensionen angenommen. Mehrere europäische Diplomaten besuchten den Prozess. Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, sprach von einer Einmischung in Russlands innere Angelegenheiten. (André Ballin aus Moskau, red, 3.2.2021)