Philipp Annawitt war für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Myanmar tätig. Er beschreibt im Gastkommentar, wie die internationale Gemeinschaft reagieren sollte.

Militär am Dienstag vor einem Tempel in Yangon.
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Wenn der Coup gelingt, wird sich Myanmar von seiner offenen Politik abwenden und demokratische Reformen rückabwickeln, zum Schaden der gesamten Bevölkerung. Für die EU und den Westen steht noch mehr auf dem Spiel: Myanmar wird unter chinesische Kontrolle fallen und die regionale Balance der Kräfte verschieben. Der Westen muss schnell handeln, die nächsten Tage sind entscheidend.

In den frühen Morgenstunden des 1. Februar, dem Tag, an dem sich die neuen Parlamente auf Unions-(nationaler) und Regionalebene konstituieren sollten, schlug das Militär, die Tatmadaw genannt, zu. Die Regierungspartei NLD wurde ausgeschaltet, Präsident Win Myint und De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi, alle Minister, die Gouverneure der 14 Regionen, die neuen nationalen Parlamentarier in ihren Unterkünften in der Hauptstadt Nay Pyi Taw und Mitglieder des Exekutivkomitees der NLD, aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft und Künstler wurden festgenommen. Hintergrund waren laut Militärangaben Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, die allerdings von unabhängigen Beobachtern als frei und fair eingestuft wurden.

Warum das Militär putschte

Das Militär hat die Reißleine gezogen, weil es keinen Ausweg mehr sah. Schon seit Ende letzten Jahres bereitete das NLD-geführte Parlament, mit dem auch der Autor über Jahre arbeiten durfte, Verfassungsänderungen vor, die das politische Veto des Militärs gebrochen hätten. Auch bedingt durch das Mehrheitswahlrecht, hat die "zivile Militärpartei" USDP bei den Wahlen im November 2020 nur mehr 26 Sitze erringen können, während NLD im ganzen Land die dominierende politische Kraft blieb.

Den Tatmadaw drohte ein immer verzweifelterer Abwehrkampf. Es müsste über die nächsten fünf Jahre immer wieder als Block Verfassungsänderungen, die von NLD und ethnischen Minderheitenparteien getragen würden, niederstimmen – theoretisch möglich, realpolitisch aber schwierig.

Jetzt hat das Militär die Macht in einem Putsch übernommen und angekündigt, in einem Jahr wieder wählen zu lassen, wenn das Problem mit der Wahlliste bereinigt sei. Das ist unwahrscheinlich. Denn dieser Putsch kommt einer radikalen und eventuell irreversiblen Kurskorrektur gleich.

2008 hatte das Militär unter dem alten General Tan Shwe eine Öffnung Myanmars eingeschlagen – wirtschaftliche Reformen, Währungsreform, und gelenkte Demokratie –, in erster Linie, um der Dominanz durch China zu entgehen. Die erste USDP-geführte Regierung unter Präsident General Thein Sein war noch von Machtkämpfen der alten Militärelite geprägt. Völlig überraschend kam dann der NLD-Wahlsieg 2015. Plötzlich sah sich das Militär einer aggressiven NLD-Regierung gegenüber, deren erster Vorstoß es war, die Verfassung zu ändern, um Aung San Suu Kyi zur Präsidentin machen zu können. Die Beziehungen zwischen der militärischen Führung und der NLD waren vom Anfang an am Tiefpunkt.

Der Rohingya-Genozid

Die Wahlsiege der NLD auch in den nationalen Nachwahlen 2017 brachten die militärische Führung weiter in die Defensive. Die Rohingya-Krise wurde vom Militär inszeniert, um Aung San Suu Kyi in der Welt zu diskreditieren, gefügig zu machen und das eigene Image als Wahrer der nationalen Einheit zu stärken. Eine Win-win-win-Situation. Teilweise klappte das auch, das Image des Militärs verbesserte sich infolge des Genozids, die anderen Minderheiten hielten still – doch Suu Kyi ging in die Offensive und verteidigte Myanmar aggressiv. Ihr berüchtigter Auftritt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag markierte ihren Absturz in der westlichen öffentlichen Meinung und ihre Sternstunde der höchsten Popularität in Myanmar.

Nach der katastrophalen Niederlage der USDP in den Wahlen in November waren der weitere Machtverlust und die folgende Verfassungsänderung nur eine Frage der Zeit. Die Situation stellte sich für die Militärs so dar: Entweder schleichender Macht- und Vermögensverlust, und wer weiß, vielleicht sogar strafrechtliche Belangung, oder die sichere Wahl: der Coup, den Status quo zementieren und die Selbstauslieferung in die Arme Chinas in Kauf nehmen. Und mit etwas Glück ist ja vielleicht sogar ein dritter Weg möglich. In Militärkreisen wurde der erfolgreiche Coup im benachbarten Thailand mit großem Interesse verfolgt – die Beziehungen von Senior General Min Aung Hlaing zur thailändischen Junta sind neuerdings exzellent. Mit Reaktionen seitens der anderen Asean-Mitglieder ist nicht zu rechnen.

Entscheidende Tage

Es geht für das Militär dabei um viel: Es kontrolliert über Holdinggesellschaften und Strohmänner die größten Unternehmen Myanmars. Das Budget des Militärs ist großteils außerhalb des Staatshaushaltes – niemand außerhalb der Militärführung weiß, wie groß es tatsächlich ist. Das Militär kontrolliert auch den Jadehandel nach China, der im Jahr 2015 immerhin 34 Milliarden Dollar wert war, sowie den Drogenschmuggel und den Handel mit illegal gerodeten Edelhölzern. Die aggressive liberal-marktwirtschaftliche Orientierung, ihre Mobilisierung westlicher und ostasiatischer Investments in reguläre Kanäle, die Stärkung des öffentlichen Finanzwesens und die beginnende Korruptionsbekämpfung der NLD-Regierung sind eine reale wirtschaftliche Gefahr für das Militär.

Was bringt die nahe Zukunft für Myanmar? Die nächsten Tage werden entscheidend sein: Suu Kyi hat in einer schon vor ihrer Verhaftung aufgenommenen Nachricht ihre Anhänger zum gewaltfreien Widerstand aufgerufen. Formiert sich Widerstand auf der Straße in der Hauptstadt Yangon und dem nördlichen Handelszentrum Mandalay, kann der Coup vielleicht gestoppt werden. Sympathie für die NLD ist auch unter einfachen Soldaten und Polizisten gegeben. Das Militär kann sich nicht sicher sein, dass diese auf eine Masse an Demonstranten feuern würden. Yangon ist allerdings aktuell abgeriegelt, an neuralgischen Punkten, den großen Plätzen, dem Haus Suu Kyis oder dem NLD-Hauptquartier können sich schwer Massen versammeln.

Angeschlagene Wirtschaft

UN-Generalsekretär António Guterres, der Hohe Repräsentant für Außen-und Sicherheitspolitik der EU, Josep Borrell, und der US-Präsident Joe Biden haben den Coup bereits verurteilt und zur Rückkehr zur demokratischen Ordnung aufgerufen. Jetzt müssen Taten folgen. Der UN-Sicherheitsrat wurde einberufen, eine scharfe Resolution wird aber am Widerstand Chinas und Russlands scheitern. Die internationale Gemeinschaft muss schnell reagieren mit politischer und materieller Unterstützung für alle gewählten demokratischen Parteien – die NLD und die Minderheitenparteien im nationalen und den Regionalparlamenten – und scharfen gezielten Sanktionen gegen die militärische Führung. Sanktionen müssen gezielt sein, um nicht die von Corona angeschlagene Wirtschaft zu kippen. Insbesondere sollte die EU den "Everything But Arms"-Handelsstatus, der für die Wirtschaft in Myanmar so wichtig ist, noch nicht infrage stellen.

Sollten einige Tage ohne Reaktionen verstreichen, wird sich der militärische Notstand konsolidieren. Die USA werden dann mit breiten Wirtschaftssanktionen den Zahlungsverkehr lahmlegen. Erste Bankstürme werden folgen. Die durch Corona angeschlagene Wirtschaft könnte kollabieren. Dann wird China schnell und entscheidend helfen. Und diese Hilfe hat ihren tragischen Preis: das Ende der demokratischen Öffnung und das De-facto-Ende der Souveränität Myanmars. (Philipp Annawitt, 2.2.2021)