Legt man die Ergebnisse seriöser Schätzungen zugrunde, so wären die Haushaltsdefizite aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit einem Schlag beglichen, wenn nichtbezahlte, hinterzogene oder durch geschickte steuerrechtliche Konstruktionen vermiedene Steuern eingetrieben werden könnten. Warum gelingt es keinem Land in Europa, diese Quelle effektiv zu nutzen, wo liegen die Probleme, was müsste getan werden, um Steuerkriminalität auf nationaler und europäischer Ebene wirkungsvoll zu bekämpfen?

Mit diesen Fragen befasst sich Protax, ein von der Europäischen Union gefördertes Forschungsprojekt, in dem europäische Experten aus nationalen Strafverfolgungs-, Steuer-und Finanzbehörden, Universitäten und Forschungsinstitute gemeinsam nach Schwachstellen im unübersichtlichen Dickicht europäischer Steuergesetze suchen, um auf der Basis einer umfassenden vergleichenden Analyse dieser Schwachstellen mögliche Lösungen zu entwickeln.

Unterschiedliche behördliche Zuständigkeiten, uneinheitliche rechtliche Regelungen, Definitionen und Schwellenwerte der Strafbarkeit müssen in einer solchen Analyse berücksichtigt werden. Was in einem Land den Tatbestand eines strafrechtlich bedeutsamen Steuerdelikts erfüllt, kann im Nachbarland aufgrund anderer rechtlicher Rahmenbedingungen ein durch verwaltungsrechtliche Maßnahmen zu sanktionierendes Vergehen sein, mit dem sich nicht Staatsanwaltschaft und Gerichte, sondern die Finanzbehörden befassen.

Gefangenendilemma mit 27 Spielern

Mangels einheitlicher oder vergleichbarer juristischer Definitionen sind länderübergreifende Analysen von Steuerkriminalität auf der Basis von statistischen Daten kaum möglich. Auch die für die Verfolgung von Steuerkriminalität in vielen Fällen erforderliche grenzüberschreitende Kooperation zwischen Ermittlungsbehörden wird dadurch erschwert. Zwar gibt es auf europäischer Ebene eine Reihe von Maßnahmen und Initiativen zur Verbesserung der Zusammenarbeit, zur Erleichterung des Datenaustauschs und Vereinheitlichung von Standards, doch diese Strategie, die auf Reformen des "law in the books" zielt, übersieht die Dynamik außerrechtlicher Faktoren, die das "law in action" prägen. Dazu zählen politische Interessen einzelner Mitgliedsstaaten, die durch die Umsetzung europäischer Vorgaben tangiert sein können.

27 verschiedene Gesetzeslagen machen es in der EU nicht gerade einfach, gegen Steuerkriminalität vorzugehen.
Foto: JOHN THYS / AFP

Die Konkurrenz um größtmögliche Attraktivität als steuerlicher Standort für kapitalkräftige Unternehmen zwingt Staaten nicht nur in einen ruinösen Wettbewerb bei der Gewährung von Steuerprivilegien, sondern erschwert auch die Umsetzung von Reformen, deren Ziel ein koordiniertes und Missbrauch verhinderndes Steuerregime auf europäischer Ebene ist. Die Zersplitterung der europäischen Steuerlandschaft ist das Ergebnis einer Konstellation, die man als Gefangenendilemma mit 27 Spielern analysieren kann. Auf ihren Vorteil bedacht, neigen einzelne Staaten zu einer Strategie der kurzfristigen Gewinnmaximierung, mit der Folge, dass der Gesamtnutzen einer die Haushalte aller Mitgliedsstaaten entlastenden gemeinsamen Steuerpolitik sinkt. Zudem zeigt die Untersuchung, dass eine Verbesserung des Daten- und Informationsaustauschs zwischen den beteiligten Akteuren auf nationaler und europäischer Ebene, zwischen Finanzinstituten und Steuerbehörden, zwar erstrebenswert ist, aber für sich genommen nicht reicht, um Steuerkriminalität wirkungsvoll zu bekämpfen.

Koordiniertes Vorgehen

Wird die Entwicklung wirksamer Methoden der gezielten forensischen Informationsanalyse vernachlässigt, fördert das die Entstehung von Datenfriedhöfen in denen ungenutzte Intelligence schlummert. Zudem erwies sich regelmäßiges Feedback zwischen Lieferanten und Empfängern als geeignetes Mittel, um das Netzwerk des Datenaustauschs an die jeweiligen Bedürfnisse der beteiligten Akteure anzupassen und Datenmüll zu vermeiden. Neben politischen Interessen und Problemen der Informationsverarbeitung auf der organisatorischen Ebene identifizierte das Projekt unter der Überschrift human factors eine weitere wichtige Dimension, die zwar im Medium des Rechts nicht angemessen berücksichtigt werden kann, aber für die Rechtswirkung, das law in action, von herausragender Bedeutung ist. Engagement, Motivation, Vertrauen, Unterstützung und geeignete Anreizstrukturen sind personenzentrierte, außerrechtliche Faktoren, die für den Erfolg einer europäischen Strategie im Kampf gegen Steuerkriminalität ebenso wichtig sind, wie die Entwicklung geeigneter rechtlicher Regelungen.

Im Ergebnis stützt dieses Projekt die zentralen Leitideen eines auf europäischer Ebene koordinierten Vorgehens. Anhand von Beispielen konnte gezeigt werden, welche Gelegenheitsstrukturen und außerrechtlichen Faktoren transnationale Formen von Steuerkriminalität begünstigen, die im nationalen Rahmen nur schwer zu verfolgen sind. Der europäische Gesetzgeber kann hier den rechtlichen Rahmen für transnational ansetzende Gegenmaßnahmen und Kooperation schaffen, doch wird deren Erfolg auch von der klugen Einbindung außerrechtlicher Faktoren abhängen. (Reinhard Kreissl, 10. 2. 2021)