Mario Draghi (re.) wurde von Staatspräsident Sergio Mattarella (li.) auserkoren, Italien zu regieren.
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Es gibt Zitate, die zum Markenzeichen eines Menschen werden können. Bei Mario Draghi war es dieses: "Whatever it takes." Koste es, was es wolle. Draghi sagte die drei englischen Worte im Sommer 2012, mitten in der Eurokrise, als Spekulanten und Hedgefonds gegen die spanischen Banken und die italienischen Staatsschulden wetteten und das Überleben der Einheitswährung gefährdet schien.

Die Europäische Zentralbank (EZB), so erklärte deren neuer Präsident bei einem Investorenmeeting in London, sei bereit, "im Rahmen ihres Mandats alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten". Dann fügte Draghi noch an: "And believe me, it will be enough." Und glauben Sie mir, es wird genug sein.

Die "Bazooka" des EZB-Präsidenten

Es war genug, bis heute. Alleine die Erwähnung der beinahe unbeschränkten Feuerkraft der EZB hatte ausgereicht, um die Spekulationswelle einzudämmen und das europäische Bankensystem und den Euro zu stabilisieren. Ohne dass die Zentralbank zunächst auch nur einen einzigen Euro ausgeben musste, sanken in Italien und in den anderen südeuropäischen Krisenstaaten die Zinszuschläge auf die Staatsschulden. Man nannte es den "Draghi-Effekt".

Seine "Bazooka" brachte Draghi erst zweieinhalb Jahre später in Stellung: Der unbeschränkte Kauf von Staatsanleihen, das vor allem in Deutschland heftig umstrittene "Quantitative Easing" der EZB, begann erst Anfang 2015.

Ein neuer Draghi-Effekt zeigte sich auch an diesem Mittwoch: Präsident Sergio Mattarella beauftragte Draghi mit der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Als Reaktion auf die Nominierung des 73-jährigen Römers zum künftigen italienischen Regierungschef sanken die Zinsaufschläge für Italiens Staatsschulden ("spread") erneut um mehrere Punkte; die Mailänder Börse eröffnete mit 2,6 Prozent im Plus.

Dem früheren EZB-Chef wird allgemein zugetraut, Rom aus der vierfachen Krise – gesundheitlich, sozial, wirtschaftlich und finanziell – herausführen zu können. "In seinen schwierigsten Zeiten setzt Italien immer auf seine besten Leute", erklärte der frühere Finanzminister Domenico Siniscalco.

Tragische Familiengeschichte, internationale Erfahrung

In Italien kennt man Draghi aber nicht erst, seit er als EZB-Chef Italien vor dem finanziellen Kollaps bewahrte. Vor seiner Wahl in den Eurotower in Frankfurt war er von 2006 bis 2011 Präsident der italienischen Notenbank, der Banca d'Italia, gewesen. Obwohl er damit zum Römer Establishment gehörte, war er im barocken Polit-Betrieb der Hauptstadt auf wohltuende Weise ein Fremdkörper geblieben. Das liegt auch daran, dass er viele Jahre im Ausland verbracht hatte, vor allem in London und New York – was man von den wenigsten italienischen Entscheidungsträgern behaupten kann.

Der designierte Premier hatte als 15-Jähriger kurz hintereinander seinen Vater und seine Mutter verloren; zusammen mit seinen Geschwistern wuchs er in der Obhut einer Tante auf. Nach dem Abschluss eines Jesuitengymnasiums in Rom zog es Draghi bald in die USA, wo er Ökonomie und Finanzwirtschaft studierte; zu seinen Lehrern am renommierten Massachusettes Institute of Technology (MIT) zählten zwei Nobelpreisträger.

Schon mit 35 Jahren wurde "Super-Mario", wie er von Kommilitonen in Anlehnung an ein legendäres Computerspiel genannt wurde, Professor an der Universität von Florenz, mit 37 amtierte er bereits als Exekutivdirektor der Weltbank in Washington. Seine akademische Karriere krönte er 2001 mit einer Professur an der Eliteuniversität Harvard.

Credo: Schuldenabbau, Ausgabendisziplin

Als Notenbank-Chef predigte Draghi in Italien seit 2006 Wirtschaftsreformen, Schuldenabbau, Ausgabendisziplin. Das gefiel den EU-Finanzministern, machte ihn aber unbeliebt bei der eigenen Regierung, die damals von Silvio Berlusconi geführt wurde. Wenn Draghi Staatsinterventionismus, Klientelwirtschaft und Abschottungstendenzen kritisierte, dann konnte Regierungschef und Unternehmer Berlusconi gar nicht anders, als sich mitgemeint zu fühlen. Zusammen mit seinem noch amtierenden Vorgänger in der EZB, Jean-Claude Trichet, schrieb der designierte Nachfolger Draghi im Sommer 2011 einen Brief an die Regierung, in dem er erneut Reformen verlangte.

Der "Cavaliere" ignorierte die Ratschläge – drei Monate danach wurde Berlusconi vom damaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano zum Rücktritt gedrängt und im November 2011 durch Mario Monti ersetzt.

Jetzt tritt Draghi in die Fußstapfen des Mailänder "Professore" und ehemaligen EU-Wettbewerbskommissars: Er wird, wie Monti, eine Regierung der nationalen Einheit führen, die, wenn es nach den Vorstellungen von Staatspräsident Sergio Mattarella geht, von den meisten Parteien unterstützt werden soll. In Rom heißt es, dass Draghi – privat ein zurückhaltender Familienmensch – gehofft habe, dass der Kelch an ihm vorübergehe.

Was tun mit dem Wiederaufbaufonds?

Wie es jetzt weitergehen soll, ist noch unklar. Fest steht, dass sich Draghi einige Tage Zeit für politische Konsultationen nehmen wird. Er muss sondieren, ob er eine solide Mehrheit zusammenbringt. Danach wird er dem Staatschef über das Ergebnis seiner Sondierungen berichten.

Die Fünf-Sterne-Bewegung ist in der Frage einer möglichen Regierung um Draghi gespalten. Während sich die Hardliner der populistischen Gruppierung gegen ein Fachleutekabinett stemmen, sind andere Parteiflügel bereit, sich bei einem Vertrauensvotum über die neue Regierung der Stimme zu enthalten. Differenzen über eine Regierung Draghi gibt es auch im Mitte-Rechts-Lager. Giorgia Meloni, Chefin der Rechtspartei Fratelli d'Italia und aufsteigender Stern am Firmament der italienischen Rechtspopulisten, fordert Neuwahlen. Die Lega signalisierte hingegen Bereitschaft, eine Regierung Draghi zu unterstützen, vieles hänge jedoch von ihrem Programm ab, so Parteichef Matteo Salvini. Draghi kann aber offenbar mit der Unterstützung von Berlusconi, dem Chef der Forza Italia, rechnen. Zwischen dem Ex-EZB-Präsidenten und dem Medientycoon bestünde "gegenseitige Wertschätzung", verlautete aus Kreisen der Forza Italia.

Eine der wichtigsten Aufgaben, die auf den neuen Regierungschef warten, ist die Ausarbeitung eines neuen Konzepts für die Verwendung der 209 Milliarden Euro, die Brüssel im Rahmen des Wiederaufbaufonds für Italien bereitgestellt hat. Damit hatte sich die Regierung von Giuseppe Conte ungemein schwergetan und ist letztlich daran gescheitert.

Und zweifellos wird Draghi versuchen, endlich die Reformen durchzuführen, die er seit bald zwei Jahrzehnten fordert, allen voran die Reform der Bürokratie und der Justiz, die das Land lähmen. Eines steht fest: Draghi wird nichts unversucht lassen, sein Land voranzubringen. Nach seinem Motto: Whatever it takes. (Dominik Straub, red, 3.2.2021)