Man muss dem Erzähler in Haruki Murakamis neuem Erzählband Erste Person Singular nur mit einer profunden Kenntnis der Kompositionen von Anton Bruckner oder Robert Schumann kommen, schon hat man ihn im Sack. Ganz egal, ob ihm eine hässliche Frau oder ein sprechender Affe gegenübertritt, Gespräche über Klassik lassen ihn alle anfängliche Skepsis vergessen.

Genau genommen ist F* in der Erzählung Carnaval sogar "eine ausnehmend hässliche Frau". "Ihr Aussehen überwog all ihre anderen Eigenschaften. Weder ihr Alter noch ihre Größe noch die Form und Fülle ihrer Brüste hatten angesichts ihrer Hässlichkeit Gewicht. (...) Ich bin nicht in der Lage, anschaulich zu beschreiben, was an ihrem Gesicht so hässlich war. (…) Auch ein Eingriff hätte am Gesamteindruck nichts verändert. Die Frage einzelner Verbesserungen, die man vielleicht hätte vornehmen können, stellte sich nicht."

Ausgerechnet mit ihr beginnt aber schnell eine intensive Freundschaft über den Faktor Musik, als er und F* in dem Klavierzyklus Carnaval von Schumann dasjenige Musikstück identifizieren, das sie beide auf eine einsame Insel mitnehmen würden. Die Wahl des Stücks über einen Maskenball ist kein Zufall, hebt die Geschichte ab nun doch an zu einer Lektion über äußerliche Masken und das wahre Gesicht dahinter. Man meint ihn und sich schon von jeglichem Vorurteil geläutert, da nehmen die 30 Seiten noch einmal eine ganz andere, kriminalistische Wendung.

Fantastik mit Frauen und Baseball

Auch wenn dieser Erzähler einem kaum sympathisch werden kann, gehört Carnaval zu den besten Stücken der Sammlung von insgesamt acht Erzählungen, in denen der weltweit viel gelesene und immer wieder als nächster Literaturnobelpreisträger gehandelte Autor von Romanen wie Naokos Lächeln, Kafka am Strand, 1Q84 oder Die Ermordung des Commendatore mit der für ihn typischen Fantastik seine liebsten Interessen umkreist: Frauen, Musik, Literatur, Baseball.

Alle bis auf die titelgebende Erzählung sind in den vergangenen paar Jahren schon in Magazinen erschienen, drei allein seit 2019 in The New Yorker. Manche spielen in der Jugend des Erzählers, andere im frühen Erwachsenenleben, der Rest im gesetzteren Alter. Jeweils blickt er erinnernd auf sie zurück. Die meisten seltsamen Geschichten halten dabei eine Moral, eine Art Anleitung oder Rat bereit.

So lernt der Erzähler als junger Student bei der Arbeit in einem italienischen Restaurant etwa eine Frau kennen. Ihren Namen kennt er nicht mehr, auch an ihr Gesicht kann er sich viele Jahre später nicht mehr erinnern. Im Gedächtnis geblieben ist ihm aber ihre Warnung, dass sie beim Sex den Namen eines anderen Mannes rufen würde. Um die Nachbarn damit nicht zu stören, legt er ihr auf ihren Vorschlag hin ein sauberes Handtuch bereit. "Bevor sie den Namen des Mannes hinausschreien konnte, schob ich ihr hastig das Handtuch zwischen ihre gesunden und kräftigen Zähne, die jeden Zahnarzt begeistert hätten." Sie schickt ihm danach Gedichte, die Geschichte wird zum Nachdenken über Vergänglichkeit und Literatur: "Wenn wir Glück haben, bleiben zumindest ein paar Worte erhalten. (...) Doch solche standhaften Worte zu schaffen oder zu finden und zu hinterlassen, erfordert bedingungslose Hingabe mit Leib und Seele."

Mit Blumen vor versperrten Türen

Ein andermal wird der noch unerfahrene Bursch von einem Mädchen zu einem Konzert eingeladen, das aber nicht stattfindet. Mit Blumen steht er vor versperrten Türen. "Das schwer Erreichbare, das du dir mit viel Zeit und Mühe verdienst, wird die Crème de la Crème deines Lebens sein", wird dem Gefoppten stattdessen ein alter Mann zuwispern.

Murakami schreibt ohne vorherige Planung, wie er beteuert. Mehrere dieser Geschichten geben den Erzähler als Schriftsteller zu erkennen, in einer über sein liebstes Baseball-Team, über deren "Hinterteile" er unter anderem dichtet, heißt er sogar Haruki Murakami. Darin finden sich auch zahlreiche biografische Parallelen zum 72-Jährigen.

Notgedrungen muss im Reich des Surrealen aber vieles erfunden sein. Dabei sind es trotz einiger unmöglicher Begebenheiten im Grunde Nebensächlichkeiten, die diese Geschichten ausmachen. Kleine Erlebnisse, die das Leben nicht verändern – aber nachklingen. Oder wie es an einer Stelle im Band heißt: "Es mag ein Gemeinplatz sein, aber unsere Lebenswelt kann sich durch einen Perspektivwechsel radikal verändern. Der Einfall eines Sonnenstrahls reicht aus, um Licht in Schatten und Schatten in Licht zu verwandeln. Positiv wird zu negativ und negativ zu positiv."

Aus dem Affenmund

Natürlich ist Erste Person Plural keine Stammbuchspruchsammlung, kein Kummerkasten. Aber insgesamt bietet sein etwas verhuschter Held – nett, aber etwas patschert, ohne Zug zum Tor, nicht reich oder zu gut aussehend, grübelnd, wie er in den Büchern des Japaners oft vorkommt – dem (männlichen) Leser Gelegenheit, nicht zu streng mit sich selbst zu sein. Murakami ist nachsichtig: "So etwas kommt vor im Leben. Es passiert etwas Unerklärliches und Unlogisches, was uns zutiefst verstört. Und mehr, als sich mit geschlossenen Augen und ohne nachzudenken davon überrollen zu lassen wie von einer großen Welle, kann man nicht tun." Oder anders gesagt bedrückt ihn in einer Geschichte über einen Song der Beatles am Altern, dass "es mich zwingt zuzugeben, dass die Träume meiner Jugend ihre Gültigkeit verloren haben".

Zur Not kommt manches auch aus dem Mund eines Affen. Der Erzähler begegnet ihm in der vorletzten Geschichte im Thermalbad eines Ryokan, eines traditionellen japanischen Reisegasthauses. Zwar kommt es ihm seltsam vor, als das Tier mit ihm zu sprechen beginnt, andererseits will er dessen Gefühle nicht verletzen. Als der Affe fragt, ob er ihn einseifen soll, willigt er also ein. Der Affe erklärt, er sei bei Menschen aufgewachsen und liebe Bruckner und Strauss, außerdem habe er ein Faible für Frauen. Weil er aber nicht erwarten könne, dass die seine "Bedürfnisse" stillen, stehle er ihre Namen. Man kann das, wie Murakami, romantisch deuten oder – wohl mit Recht – auch problematisch finden. Eines aber trifft hier zu: "Natürlich gab es immer eine verhältnismäßig logische Lösung, aber ich hatte meine Zweifel, ob man in der Literatur mit logischen Berechnungen besonders weit kam." (Michael Wurmitzer, 4.2.2021)