Der Schwedenplatz und das angrenzende Bermuda-Dreieck waren kurz vor dem Terroranschlag vom 2. November Schauplatz einer Amtshandlung, die einen 29-Jährigen vor Gericht brachte.

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Wien – Im Nachhinein klingt es beinahe unheimlich, was Thomas M. gegen 1.30 Uhr am 31. Oktober nach seiner Festnahme im Bereich Rabensteig/Schwedenplatz gebrüllt hat. "Ich bin kein Scheißtschusch, ich bin kein Terrorist! Kümmert euch um die anderen! Ich bin Österreicher!", soll der 29-Jährige just in dem Grätzl geschrien haben, wo zweieinhalb Tage später ein Terrorist vier Menschen tötete.

Wie es zu M.s Fixierung und Festnahme gekommen ist, muss Richterin Andrea Philipp-Stürzer ergründen. Die Lage in der zweiten Stunde des Halloween-Tages war damals nämlich etwas unübersichtlich, wie auch der unbescholtene Angeklagte sagt. "Ich war mit Arbeitskollegen ein letztes Mal vor dem Lockdown fortgehen", erinnert er sich. Als die Lokale um 1 Uhr schlossen, seien die Massen auf die Straße geströmt. "Eine Partie hat sich mit den zwei Mädls unterhalten, die auch vor dem Lokal standen, ein Kollege und ich gingen Richtung Taxis."

Fotos von Rikscha

Auf dem Weg dorthin plauderten die beiden noch mit einem Fahrradrikscha-Fahrer, M. saß um 1.15 und 1.16 Uhr sogar in dem Gefährt, wie vom Verteidiger vorgelegte Handyfotos zeigen. "Plötzlich war viel Polizei da. Es ist alles so schnell gegangen", sagt der Angeklagte. "Jemand packte mich an der Schulter und sagte, dass ich seinem Kollegen eine gegeben habe", dann sei er auch schon auf dem Boden gelegen, und mehrere Beamte beschäftigten sich mit ihm.

Ob er, wie angeklagt, tatsächlich einen Faustschlag gegen den Kopf verpasst und einen Schwitzkasten beim Beamten versucht hat? "Ich habe keine Erinnerung mehr", bedauert M. auf diese Frage der Richterin. Er könne sich noch erinnern, dass er zehn, 15 Meter von der anderen Kollegengruppe entfernt gewesen sei, dann kam schon die Hand auf der Schulter.

Gleichzeitig will der gut verdienende Angestellte auch nicht ausschließen, jemand getroffen und verletzt zu haben. "Es waren viele Polizisten da, ich wusste nicht, wieso, vielleicht habe ich eine Abwehrbewegung gemacht", kann er nur mutmaßen. Daher hat er bereits im Vorfeld dem Polizisten, der Prellungen des Jochbeins, der Schulter und eines Knie erlitt, 1.500 Euro Schmerzensgeld überwiesen.

1,74 Promille Alkohol im Blut

Nüchtern war M. damals jedenfalls nicht mehr – ein Alkovortest ergab eine Stunde später einen Wert von 1,74 Promille. Was auch erklären könnte, warum er sich lautstark als Österreicher ausgewiesen hat – tatsächlich ist er ein in Österreich geborener rumänischer Staatsbürger.

Gleich neun Augenzeugen hat Philipp-Stürzer geladen, und deren Aussagen kann man wunderbar zur Illustration des Rashomon-Effekts nutzen – es gibt nämlich die unterschiedlichsten Darstellungen, was passiert ist.

Da sind einmal fünf Polizisten. Sie saßen in einem Bus am Schwedenplatz, da auch die Exekutive weiß, dass die Mischung (in alphabetischer Reihenfolge) Alkohol, Frauen, Männer und Sperrstunde möglicherweise Einsatzgründe produziert. Alle Beamten berichten, dass kurz nach 1 Uhr ein junger Mann gekommen sei und um polizeiliches Eingreifen gebeten hatte. Beim Grund dafür gehen die Aussagen auseinander und liegen zwischen "Unsere Freundinnen werden belästigt" über "Da wird gestänkert" bis zu "Da passiert gleich was".

Täter schlug von rechts gegen den Kopf

Die Beamten sahen jedenfalls keinen Grund zum Einschreiten, sondern forderten den jungen Mann auf, heimzugehen. Tat er nicht, kurz darauf nahm der später verletzte Polizist in der Menge ein Gerangel wahr. Er sprang aus dem Bus und schrie "Polizei, Stopp!", schildert der Zeuge. Einer der am Gerangel Beteiligten sei zurück in die Menge gezogen worden, er habe sich auf diese Person konzentriert, als er plötzlich von rechts einen Faustschlag gegen die Stirn bekommen habe.

Unmittelbar darauf habe der Angreifer versucht, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Mithilfe eines Kollegen konnte der Polizist den Verdächtigen zu Boden bringen. Der Angeklagte sei der Angreifer gewesen, ist der Polizist sich sicher. Er habe zwar nicht gesehen, von wem der Faustschlag kam, aber er geht aufgrund der zeitlichen Abfolge davon aus, dass es nur M. gewesen sein könne. Von den übrigen Zeugen – egal ob Beamte oder Zivilisten – hat den Schlag niemand mitbekommen, erst der versuchte Schwitzkasten wurde auch von anderen registriert. Interessanterweise ist einer der Polizisten felsenfest davon überzeugt, dass M. auch an dem ursprünglichen Gerangel beteiligt gewesen sei.

Frauen fühlten sich unwohl

Dann gibt es den jungen Mann und seinen ebenso rund 20-jährigen Freund. Die beiden erzählen, sie hätten in einem Lokal zwei Frauen kennengelernt, seien dann aber in ein anderes Etablissement gewechselt. Nach der Sperrstunde habe man die Frauen, 40 und 44 Jahre alt, auf der Straße wiedergesehen. Die Frauen seien von alten Männern – um die 40 – angesprochen worden, berichtete einer der jungen Zeugen bei der Polizei, und hätten sich sichtlich unwohl gefühlt. Das sei auch der Grund gewesen, warum sein Freund die Polizisten ansprach. Vor Gericht ist er sich auch sicher, dass der Herr, der anschließend seinen Freund attackiert hat, auch jener sei, der den Polizisten angriff.

Ganz anders stellt es Herr R. da, 38 Jahre alt und ein Arbeitskollege aus der Runde des Angeklagten. Man habe mit den beiden Frauen auf der Straße geplaudert, die jungen Männer hätten von etwas weiter weg gerufen, die Frauen sollten mit ihnen heimfahren. "Eine wäre vielleicht nicht abgeneigt gewesen, die andere wollte sicher nicht."

"Schade, dass das beim Heimgehen passiert ist"

Dann sei einer der Jüngeren hergekommen, habe die "Unwillige" an der Hand genommen und gesagt, sie solle jetzt mitkommen. "Ich habe die Frau gefragt, ob sie das will, und sie hat verneint. Dann habe ich zu dem Burschen gesagt, er soll verschwinden, worauf er mich angerempelt hat", erinnert sich dieser Zeuge. Der Angeklagte sei bei der ganzen Szene weiter entfernt außerhalb seines Blickfeldes gestanden. Erst als M. auf dem Boden lag, habe er ihn wieder registriert. Warum sein Kollege festgenommen wurde, kann R. nicht sagen. Die Stimmung davor sei jedenfalls nicht aggressiv gewesen: "Es war ein toller Abend, schade, dass das beim Heimgehen passiert ist", bedauert er.

Die beiden Frauen wiederum machen ebenfalls diametral entgegengesetzte Aussagen: Die 44-Jährige sagt, sie habe den Angeklagten überhaupt nicht wahrgenommen. Die 40 Jahre alte Zeugin dagegen beteuert, M. habe ihnen am Anfang geholfen, als sie von den jüngeren Männern angegangen worden seien. In einem Punkt sind sich aber alle Zeuginnen und Zeugen ziemlich einig: Die Lage sei unübersichtlich gewesen.

Einen Freispruch im Zweifel oder eine Diversion zieht Philipp-Stürzer aber nicht in Betracht. Wegen der ziemlich gleichlautenden Darstellung der Polizisten verurteilt sie M. gleich zu sieben Monaten bedingter Haft, zusätzlich muss er dem Polizisten, der 14 Tage im Krankenstand war, weitere 1.334,52 Euro an Privatbeteiligtenanspruch zahlen. Da M. sich nicht erinnern könne, wie er innerhalb weniger Minuten vom fröhlichen In-der-Rikscha-Sitzer zum Faust- und Ringkämpfer geworden sei, könne sie auch kein Geständnis als mildernd werten, begründet die Richterin. Während M. das nach Rücksprache mit seinem Verteidiger akzeptiert, gibt die Staatsanwältin keine Erklärung ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 3.2.2020)