Wird nicht gegengesteuert, bleibt der Klimaschutz auf der Strecke, sagt Heinz Kopetz im Gastkommentar.

100 Prozent grünes Gas aus Österreich? Das in der Praxis realisierbare Potenzial bis 2030 beträgt nur wenige Prozent.
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Kürzlich schickte mir ein Freund den Link für eine Homepage zu dem Thema grünes Gas. Grünes Gas ist Gas aus erneuerbaren Quellen wie Biogas, Holzgas, Wasserstoff. Ich machte Klick und fand eine professionell und ansprechend gestaltete Präsentation. Sie eröffnete mir einen Blick in die Gedankenwelt der Gaswirtschaft. Ich las auf der Homepage und in den zitierten Studien: "Grünes Gas, die umweltfreundliche Energie der Zukunft aus Österreich – Schlüsselposition auf dem Weg zur Klimaneutralität" und weiter: "Unser Land hat das Potenzial, seinen Gasbedarf künftig mit Grünem Gas made in Austria zu decken." "Der Erdgasbedarf für Haushalte und Fernwärme ließe sich vollständig mit erneuerbarem Gas aus Biomasse decken."

Schönes Märchen

Nach dem Lesen dieser Zeilen rieb ich mir die Augen und fragte mich: Stimmt das alles? Welche Logik steckt hinter diesen Thesen? Und begann zu recherchieren: Eine erste Antwort fand ich in der Erdgasstatistik der E-Control. Sie weist für 2019 einen Anteil von 1,6 Promille grünes Gas am Gasaufkommen auf, ähnlich die Monatswerte für 2020. Selbst wenn die Menge an grünem Gas in den kommenden Jahren verzehnfacht würde, wären das weniger als zwei Prozent des Gasverbrauchs, von einer Deckung des Gasbedarfs mit grünem Gas meilenweit entfernt.

Ein zweiter Blick führt auf die Untersuchungen des Wegener-Instituts zum Thema Klimafragen. Dort wurde erst kürzlich veröffentlicht, Österreich müsse seine CO2-Emissionen jährlich um 4,5 Millionen Tonnen senken, umgelegt auf 2030 müssen die Emissionen halbiert werden. Daher begann ich die zitierte Studie zum Potenzial für Biomethan zu studieren. Das brachte mir die nächste Überraschung. Hier wird übersichtlich und penibel das theoretische Potenzial an Biomasse zur Methanerzeugung (grünes Gas) aufgelistet, ohne zu berücksichtigen, welche Mengen dieser Biomasse schon jetzt sinnvoll verwendet oder aus Kosten- und Logistikgründen nie mobilisierbar sein werden. Für Leser, ungeübt im Umgang mit theoretischen Potenzialstudien, führt dies zu gravierenden Fehlinterpretationen.

Fossiles Geschäft

Damit wurde klar: Das in der Praxis realisierbare Potenzial an grünem Gas bis 2030 beträgt nur wenige Prozent! Das schöne Märchen der Gasversorgung mit 100 Prozent grünem Gas aus Österreich hält dem Faktencheck nicht stand. Ein Blick auf die Kosten macht das noch deutlicher: Im Großhandel kostet die Kilowattstunde im Erdgas etwa einen Cent, im Energieholz etwa 2,5 Cent und im grünen Gas zehn bis zwölf. Die direkte thermische Nutzung von Holz zur Wärmelieferung ist viel effizienter als die Vergasung von Holz!

Doch hinter dieser Präsentation zum grünen Gas ist ein Konzept zu erkennen: Der Öffentlichkeit wird suggeriert, Gas wird grün, die Mengen sind theoretisch da, über Preise wird vornehm geschwiegen, Gas als Wärmequelle ist sinnvoll. Der Effekt: Die Kunden verlangen nach Gaslösungen. Wenn dann klar wird, dass die Mengen nicht aufbringbar sind und grünes Gas zu teuer ist, wird eben weiter fossiles Gas verwendet. So steckt hinter dem Märchen von 100-prozentigem grünem Gas die knallharte Absicherung der Geschäftsinteressen der fossilen Gaswirtschaft. Das Konzept ist beinahe genial ausgedacht – einziger Pferdefuß: Es geht in der Energiepolitik nicht nur um die Interessen der Gaswirtschaft, sondern auch um den Klimaschutz, das heißt um die Senkung der Emissionen. Diese Senkung kann so nicht erreicht werden.

Und die Klimaziele?

Denn wenn Österreich bis 2030 seine Emissionen halbieren muss und Gas bis 2030 zu weit mehr als 90 Prozent fossiles Gas sein wird, dann muss auch der Gasverbrauch bis 2030 annähernd halbiert werden. Und dies kann nur gelingen, wenn Gas aus der Wärmebereitstellung (Direktkunden, Fernwärme) und aus der Stromerzeugung weitgehend ausscheidet und fossiles Gas vornehmlich in der Industrie zum Einsatz kommt, die sich zehnmal so teures grünes Gas nicht leisten kann. Der Vorschlag, in das aktuell diskutierte Energiegesetz (EAG) eine Verpflichtung aufzunehmen, bis 2030 mindestens sechs Prozent grünes Gas im Netz zu haben, ist kontraproduktiv: Er führt zu vermeidbaren Zusatzkosten und verleiht der Gaswirtschaft ein grünes Mäntelchen für ihre Werbung.

Österreich hat zwei Infrastruktursysteme zur Energieversorgung: das Stromnetz und das Gasnetz. Der Anteil erneuerbarer Energien im Stromnetz liegt bei 75 Prozent, im Gasnetz unter einem. Unser Land kann die Stromversorgung bis 2030 auf erneuerbare Quellen umstellen – im Sommer und im Winter, wenn Biogas und Holz vermehrt im Winter eingesetzt werden. Es ist jedoch unmöglich, den aktuellen Gasverbrauch zu 100 Prozent erneuerbar zu decken. Auf Dauer sind zwei Infrastruktursysteme im jetzigen Umfang mit erneuerbaren Energien nicht möglich. Die Gaswirtschaft muss sich unter Beibehaltung der Speichermöglichkeiten auf ein kleineres Gasnetz einstellen.

Irreführende Informationen

So zeigt sich, dass die Homepage über das grüne Gas Fehlinformationen enthält, die die Leserschaft irreführen und die Erreichung der Klimaziele gefährden. Denn nur wenn Gas aus der Raumwärme allmählich ausscheidet und durch Fernwärme, Pellets oder Wärmepumpen ersetzt wird, besteht die Chance, die Klimaziele zu erreichen.

Die etablierten Energieunternehmen leisten in Österreich Großartiges zur Sicherung der Energieversorgung. Es ist zu wünschen, dass sie ihre einflussreiche Position nicht einsetzen, um alte Strukturen zu verteidigen, und damit das Neue behindern, sondern dass sie offen sind für Innovationen und neue Systeme auch in der Raumwärmeversorgung, die wohlige Wärme auch ohne Gas und zu vertretbaren Kosten ermöglichen. (Heinz Kopetz, 4.2.2021)