Mit großem Aufgebot gingen die Sicherheitskräfte in Moskau gegen jene vor, die nach der Verurteilung Alexej Nawalnys ihren Protest auf die Straße trugen.

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In Russland ist kein Ende des politischen Winters in Sicht. TV-Moderator Iwan Urgant brachte es in seiner Abendshow sarkastisch auf den Punkt: "Die wichtigste Nachricht des Tages heute, wir haben sie alle angeschaut und uns gefragt: Kommt er raus oder kommt er nicht raus? Er ist nicht rausgekommen. Ich spreche natürlich vom Murmeltiertag." Obwohl der am 2. Februar begangene Murmeltiertag in Russland gar nicht populär ist, verstanden praktisch alle Zuschauer die Anspielung auf das Nawalny-Urteil.

Dass er "nicht rausgekommen" ist, hat dabei eigentlich die wenigsten politischen Beobachter verwundert. Nawalny waren die juristischen Breitseiten vor seiner Rückkehr aus Deutschland angedroht worden. Da er nicht gehört hat, war es aus Sicht des Kreml nur logisch und richtig, dass er die Konsequenzen zu spüren bekommt.

"Wie zu Sowjetzeiten"

Für die weitere politische Entwicklung in Russland ergeben sich nun mehrere Szenarien. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Druck der Straße irgendwann zu Absetzbewegungen innerhalb der Elite führt. Erste Tendenzen sind möglicherweise zu sehen: Der stellvertretende Chefredakteur des Kreml-nahen Internetmediums Mash, Sergej Titow, kündigte, nachdem der Kanal die Enthüllungsstory Nawalnys über Putins Luxuspalast am Schwarzen Meer "widerlegt" hatte, indem er den Palast erst als Baustelle darstellte und dann Milliardär Arkadi Rotenberg auftreten ließ, der sich als Inhaber "outete". Die Geschichten seien dem Kanal von "Leuten im Kostüm ... wie zu Sowjetzeiten" auferlegt worden, begründete Titow seinen Abgang.

Auch der Leiter des Gerichts, das Nawalny verurteilte, nahm überraschend im Vorfeld seinen Abschied. Prominente und Unternehmer kritisierten das Urteil. Die Bewertungen gingen von "Trauer und Scham" bis zu einem "Stiefel im Gesicht" als Zukunftsszenario.

Putins dickes Sicherheitspolster

Andererseits hat Präsident Wladimir Putin weiterhin alle Machthebel in der Hand: Die Loyalität der Sicherheitsorgane ist ihm, einem Sprössling der KGB-Schule, gewiss. Die Meinungshoheit in den Medien ebenso. Das spiegelt sich in den hohen Umfragewerten für den Präsidenten wider. Nach dem Hoch von 80 Prozent nach der Krim-Annexion sind sie zwar zurückgegangen, die Zustimmung für Putin liegt aber selbst laut dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum bei 65 Prozent.

Dass gleichzeitig mehr Menschen die Arbeit der Regierung kritisieren als befürworten, ist nur auf den ersten Blick paradox. Die Unzufriedenheit der Menschen ist spürbar, nachdem jahrelang der Lebensstandard immer weiter gefallen ist, nachdem das Rentenalter zuletzt erhöht wurde und die russische Führung sich gerade zu Beginn der Corona-Krise wegduckte. Aber das jahrelang eingeübte Ritual "Guter Zar – böse Bojaren" funktioniert bislang.

Die politische Apathie im Land ist groß. Die meisten kümmern sich nicht um Politik, sondern müssen sehen, wie sie über die Runden kommen. Bilder vom ungeheuren Reichtum der Elite, die im krassen Gegensatz zu den eigenen finanziellen Möglichkeiten stehen, rufen zwar Unzufriedenheit hervor, verstärken bei vielen aber auch das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht. Einen Umsturz will die Mehrheit nicht, weil sie einen Rückfall in die Armut und das Chaos der 1990er-Jahre fürchtet.

So sieht derzeit wenig nach einem Wandel aus. Das Wegsperren Nawalnys ist eher eine Sicherheitsmaßnahme für die anstehende Duma-Wahl. Die Duma wird den Übergang in das neue Verfassungszeitalter begleiten, in dem Putin entscheidet, ob er 2024 nochmals antritt oder einen Nachfolger kürt.

Der Oppositionelle Nawalny hätte an der Wahl nicht teilnehmen können. Er hat aber in der Vergangenheit durch die Taktik der "intelligenten Abstimmung", wobei die Stimmen der Opposition auf den jeweils aussichtsreichsten Gegenkandidaten der Kremlpartei Einiges Russland konzentriert werden, mehrfach bewiesen, dass er der russischen Führung Probleme bereiten kann.

"Ausländische Agenten"

Weitere Restriktionen könnten folgen. Sukzessive hat der Kreml in den vergangenen Jahren den Spielraum der Zivilgesellschaft eingeschränkt: NGOs wurden zu "ausländischen Agenten" degradiert, das Versammlungsrecht beschnitten, das Internet scharf kontrolliert. Die freie Meinungsäußerung wurde durch die Gesetze zu "homosexueller Propaganda" und die vage formulierten Paragrafen über "Extremismus", "Geschichtsleugnung" oder die "Beleidigung von Behörden und Amtspersonen" ebenfalls eingeengt.

Weil die jungen Menschen ihren Informationskonsum immer weiter aus dem staatlich kontrollierten Fernsehen ins Internet verlagern, läuft nun verstärkt der Kampf um die Kontrolle in den sozialen Netzwerken an. Ausländische Anbieter wie Facebook, Twitter, aber auch Tiktok geraten unter Druck. Eine scharfe Kampagne fährt der Kreml gegen das Videoportal Youtube. In der Duma wird die Blockierung des Portals diskutiert, nachdem dort Nawalnys Enthüllungen über die Politprominenz gelaufen sind. (André Ballin aus Moskau, 3.2.2021)