Zwei Parteichefs, zwei Positionen: Geht es um die Abschiebungen von Minderjährigen, trennt Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mehr als eine Plexiglaswand.

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Die Klubchefin der Grünen, Sigi Maurer.

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Die Grünen legen es im Konflikt mit der ÖVP über die Asylpolitik nicht auf einen Koalitionsbruch an. Klubchefin Sigrid Maurer kündigte in einer Stellungnahme an, den Anträgen von SPÖ und Neos in der Sondersitzung am Donnerstag nicht zuzustimmen. Allerdings seien die Grünen "fest entschlossen", die Rechte von Kindern in Österreich besser zu schützen. Diesbezüglich kündigte Maurer für Donnerstagnachmittag "weitere Schritte" des Vizekanzlers Werner Kogler an.

Diese folgten wenig später auch via Twitter: Die Abschiebungen hätten einen "dringenden Handlungsbedarf" aufgezeigt, schrieb Kogler – weswegen die Bundesregierung nun eine "Kindeswohlkommission" einsetze. Die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Irmgard Griss, solle gemeinsam mit Expertinnen und Experten "analysieren, wie Kindeswohl in diese weitreichenden Entscheidungen einfließt und die politisch Verantwortlichen und die zuständigen Behörden mit Empfehlungen unterstützen", erklärte Kogler.

Folgenloser Antrag

"Der grüne Klub wird nicht für einen folgenlosen Entschließungsantrag stimmen, der ohnehin keine Mehrheit erreicht", kündigte Maurer an. Die Anträge, die jüngst nach Georgien und Armenien abgeschobenen Mädchen wieder nach Österreich zurückzuholen, wertet Maurer als Versuch der SPÖ, "parteipolitisches Kleingeld zu wechseln". Das sei ein durchsichtiges Manöver, zumal die SPÖ in ihrer Regierungszeit selbst zahlreiche Verschärfungen der Asylgesetze mitbeschlossen habe.

Auch auf Twitter erklärte die grüne Klubchefin Sigrid Maurer, warum sie die Koalition mit der ÖVP nicht aufs Spiel setzen wird.

"Uns geht es um Lösungen: Wir sind fest entschlossen, die Rechte von Kindern in Österreich besser zu schützen", betonte Maurer. Diese Linie – inklusive der Ablehnung des rot-pinken Antrags – haben die grünen Abgeordneten ihren Angaben zufolge bei einer Klubsitzung am Mittwochabend vereinbart.

Angespannte Koalitionsstimmung vor Sondersitzung

Vor der Sondersitzung des Nationalrats am Donnerstagnachmittag spitzte sich die Stimmung innerhalb der türkis-grünen Koalition immer weiter zu. Hinter vorgehaltener Hand hieß es noch am Mittwoch, die Situation könnte dort eskalieren. Am Abend legte ein Grünen-Abgeordneter nach: "Wir haben nicht den Eindruck, dass die ÖVP fair und kooperativ war", erklärte Michel Reimon auf Puls 24. Denn nun müssten die Grünen zeigen, "dass die Sprache, die die ÖVP versteht, auch von uns gesprochen wird".

Rund eine Woche nachdem die zwölfjährige Tina und ihre Familie nach Georgien abgeschoben wurden, stand zwischenzeitlich die Zusammenarbeit von Türkis und Grün auf der Kippe. "Die Koalition wird so nicht weitergehen können wie bisher, das ist ganz klar", sagte Reimon. Und: Es sei "völlig inakzeptabel", wie sich Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) zu den Abschiebungen geäußert habe.

Nehammer hatte die Abschiebungen von Minderjährigen nach Georgien und Armenien zuletzt verteidigt und erklärt, dass die Gerichte in diesen Fällen die Möglichkeit der Gewährung eines humanitären Bleiberechts geprüft haben. Die Schuld an den Abschiebungen gab Nehammer den Eltern der Kinder, die das Asylrecht "missbraucht" und ihre Kinder "in diese Lage gebracht" hätten. Die Erwachsenen hätten "bewusst ignoriert", dass sie von Anfang an keine Chance auf ein Bleiberecht hätten, und den Fall "bewusst auf die Spitze getrieben".

Ein Ende der Koalition kam für Reimon trotzdem nicht infrage: "Den Gefallen tun wir Sebastian Kurz nicht." Allerdings würde sich "der Ton in der Koalition deutlich ändern". Auch Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) zeigte sich am Mittwochvormittag noch zurückhaltend: Er wolle sich nicht festlegen, wie er bei der Sondersitzung stimmen würde, wäre er im Parlament, sagte er am Rande einer Pressekonferenz. Weder die Stimmung in der Koalition noch die Stimmung bei den Grünen – immerhin sitzt er mehr oder minder zwischen den Stühlen – wollte er näher kommentieren.

Belastungsprobe im Parlament

SPÖ und Neos brachten jedenfalls am Donnerstag Entschließungsanträge ein, um die jüngst abgeschobenen Mädchen aus Georgien und Armenien wieder zurückzuholen und festzulegen, dass bei Entscheidungen über ein humanitäres Bleiberecht die lokalen Behörden einzubinden sind – dies war bis 2014 der Fall. Die SPÖ brachte wortgleich einen Antrag aus dem Wiener Gemeinderat ein, dem die Grünen auf Landesebene zugestimmt haben. Darin wird die türkis-grüne Bundesregierung aufgefordert, "sich zum humanitären Bleiberecht zu bekennen und diese grausamen Abschiebungen zurückzunehmen". Eine Mehrheit ist nicht in Aussicht.

Zwei Punkte, die die ÖVP klar ablehnt und die Grünen eigentlich befürworten. Einen offiziellen Klubzwang haben die Ökos nicht, auch wenn man versucht, einheitlich aufzutreten. Durch die Anträge der Opposition will man sich intern nicht auseinanderdividieren lassen, aber es sich offenbar auch nicht mit den Koalitionspartner verscherzen. Über das grüne Vorgehen wurde Mittwochabend bei der internen Klubsitzung heftig diskutiert. Zuvor schien es, als ob zumindest einige Abgeordnete den Anträgen der Opposition zustimmen würden – was die ÖVP zwar verstimmt hätte, ein Koalitionsbruch wäre es aber nicht.

Kein Gebrauch von Sonderregelung

Das wurde explizit im Regierungsübereinkommen von Türkis-Grün festgehalten. Dort steht unter dem Punkt Asyl, dass generell bei Gesetzesinitiativen und Verordnungen zwar das Einvernehmen der Koalitionsparteien vorgesehen ist – wenn es jedoch nicht hergestellt werden kann, jeder Koalitionspartner berechtigt ist, ein Gesetzesvorhaben im Nationalrat als Initiativantrag einzubringen, und es zu einem unterschiedlichen Abstimmungsverhalten der beiden Koalitionspartner kommen kann.

Gebrauch hat die Koalition von dieser Abmachung bisher noch nicht gemacht – auch wenn die Grünen bereits in Versuchung geführt wurden, als SPÖ und Neos einen Antrag zur Aufnahme von Kindern von der griechischen Insel Lesbos gestellt hatten. Doch die Grünen wollten den Koalitionsfrieden nicht gefährden.

Die Wiener Grünen hatten vorab eine "Wiener Erklärung" veröffentlicht, in der sie nach einem Jahr der Regierungsbeteiligung die Fragen stellen: "Reicht, was wir erreichen? Erfüllen wir unsere eigenen Erwartungen? Enttäuschen oder bestätigen wir die in uns gesetzte Hoffnung?" Jedenfalls seien, so die Wiener, "klar rote Linien überschritten" – sie fordern ein "Abschiebeverbot für in Österreich geborene und aufgewachsene Kinder und Jugendliche" sowie den generellen Abschiebestopp während der Pandemie. Regieren sei "kein Selbstzweck. Regieren beinhaltet den Auftrag zu verändern."

Koalitionsgespräche

Die Sondersitzung des Nationalrats wurde am Donnerstag um 11 Uhr eröffnet und sofort auf 14 Uhr vertagt. In diesen drei Stunden sollen etliche Gespräche zwischen ÖVP und Grünen angesetzt gewesen sein.

Einberufen worden war die Sondersitzung von den Freiheitlichen. FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl kündigte wegen des Corona-Demo-Verbots einen Misstrauensantrag gegen Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) an. Die beiden lieferten sich daraufhin den erwarteten Schlagabtausch. Alles rund um die Debatte, die seit dem Nachmittag läuft, wird live im STANDARD-Ticker berichtet. (Oona Kroisleitner, Gabriele Scherndl, APA, 4.2.2021)