Im Gastkommentar spricht sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell für eine Verbesserung der EU/Russland-Beziehungen aus.

Der Fall Nawalny überschattet den Besuch von Josep Borrell in Russland. Die Verurteilung des russischen Oppositionspolitikers führte zu Protesten in Russland und sorgte für Kritik, etwa aus Deutschland und Österreich.
Foto: AFP / Natalia Kolesnikova

Ende dieser Woche werde ich nach Moskau reisen. Das ist der erste Besuch eines Hohen Vertreters der EU in Russland seit vier Jahren. Es wird vor allem darum gehen, Fragen zu erörtern, die uns Sorgen bereiten: zur Stellung und Rolle Russlands in Europa und zu seinem breiteren internationalen Engagement.

Die Beziehungen zwischen der EU und Russland haben sich in den letzten zehn Jahren verschlechtert und sind vor allem seit Russlands rechtswidriger Annexion der Krim und Sewastopols im Jahr 2014 von mangelndem Vertrauen geprägt. Wir sehen uns derzeit im Wesentlichen als Rivalen und Konkurrenten – und nicht als Partner.

Rivale und Konkurrent

Große Meinungsverschiedenheiten gibt es in unserer Haltung zu den Konflikten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft – von der Ukraine und Belarus bis hin zu Libyen und Syrien – wie auch beim Thema Menschenrechte und Grundfreiheiten. Die Vergiftung Alexej Nawalnys, seine Verhaftung und anschließende Verurteilung wie auch die Festnahme tausender Demonstranten in den letzten Tagen sind besorgniserregende Anzeichen dafür, dass der Raum für Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängige Stimmen in dem Land immer weiter schrumpft. Russlands Handeln in den letzten Jahren steht nicht im Einklang mit den Verpflichtungen, die es als Mitglied des Europarates und als OSZE-Teilnehmerstaat eingegangen ist. Dabei sind diese Institutionen das Herzstück der Zusammenarbeit, des Friedens und der Sicherheit in Europa.

Wir brauchen einen offenen Austausch mit Russland über den Stand unserer Beziehungen. Genau das ist ja Sinn und Zweck der Diplomatie: sich miteinander auseinanderzusetzen, Botschaften zu übermitteln und zu versuchen, eine gemeinsame Grundlage zu finden. Diplomatie ist unverzichtbar, wenn die Dinge schlecht stehen. Unsere Kommunikationskanäle sollten immer offen sein. Allerdings haben wir in letzter Zeit mehr übereinander als miteinander geredet – oder sogar aneinander vorbei. Das verfestigt nur das Misstrauen und tut wenig dazu, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen.

Klartext reden

Wir müssen Klartext reden und ansprechen, was uns Sorge bereitet. Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass wir mit unserem größten Nachbarn nicht nur in historischer und geografischer Hinsicht eng verbunden sind. Die Europäische Union ist nach wie vor der erste Handelspartner Russlands und die größte Quelle ausländischer Direktinvestitionen. Russische Studierende sind beim Hochschulaustauschprogramm Erasmus+ die größte Gruppe unter den Teilnehmern aus Nicht-EU-Staaten, und in Russland werden mehr Schengen-Visa ausgestellt als in jedem anderen Land. Unsere Verbindungen sind für beide Seiten nach wie vor wichtig.

Wir müssen deshalb einen mehrgleisigen Ansatz verfolgen, wie ihn die EU in ihren Leitprinzipien für ihre Beziehungen zu Russland dargelegt hat. Dies wird der Bezugsrahmen für meinen Besuch in Moskau sein. Er umfasst eine Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen zu Fragen, die im Interesse der EU liegen, und sieht Kontakte mit der russischen Zivilgesellschaft sowie Unterstützung für diese vor. Das geht nicht per Videokonferenz.

Mehr Zusammenarbeit

Und trotz allem gibt es Bereiche, in denen wir zusammenarbeiten und dann auch Ergebnisse erzielen können. Das beste Beispiel ist der Gemeinsame umfassende Aktionsplan – die Atomvereinbarung mit dem Iran, die nach wie vor ein Kernstück der weltweiten Architektur zur Nichtverbreitung von Kernwaffen ist. Ein besseres Verständnis und gemeinsame Anstrengungen der EU und Russlands kämen vielen regionalen Krisen zugute.

Die globalen Herausforderungen unserer Zeit erfordern globale Lösungen, angefangen bei der Covid-19-Pandemie. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, Transparenz und Informationsaustausch, nicht weniger. Wir müssen Desinformation bekämpfen, die gerade in diesen Zeiten besonders schädlich ist und Menschenleben gefährden kann. In diesem Bereich haben wir Aktivitäten aus Russland gesehen.

Wir wollen mit Russland bei den Herausforderungen des Klimawandels enger zusammenarbeiten. Wir zählen auf Russlands Zusage, den Klimagipfel COP26 in Glasgow zu einem Erfolg zu machen. Nur wenn wir die Chancen für einen gerechten und fairen Wandel für alle nutzen, können wir Wohlstand sichern und gleichzeitig den Planeten retten.

Schließlich müssen wir uns auch mit den neuen Bedrohungen und Chancen auseinandersetzen, die im digitalen Bereich und im Cyberraum entstehen. In der jüngsten Vergangenheit haben wir viele Cyberangriffe erlebt, die Symptome der neuen Rivalitäten sind. Auf EU-Seite stehen wir ganz klar zu unserer Zusage, internationale Streitigkeiten im Cyberspace mit friedlichen Mitteln beizulegen. Aber das bedeutet nicht, dass wir untätig bleiben. Wir haben Sanktionen gegen die Urheber böswilliger Aktionen verhängt und werden dies bei Bedarf auch weiterhin tun.

Kein "business as usual"

Im Einklang mit der Schlussakte von Helsinki muss die Stabilität in Europa auf Zusammenarbeit, der Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität der Staaten sowie auf der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten beruhen. Den Dialog aufzunehmen bedeutet nicht, dass wir einfach zu "business as usual" übergehen. Es gilt vielmehr, Bereiche zu finden, in denen es ein gemeinsames Verständnis gibt, um das Vertrauen schrittweise wiederaufzubauen.

In den 1990er-Jahren träumten wir von einem anderen Europa, in dem alle zusammenarbeiten, um globale Herausforderungen zu meistern. Leider ist die Realität im Jahr 2021 diesen Träumen nicht näher gekommen. Dennoch sollten wir uns weiter von diesen Träumen inspirieren lassen und uns dafür einsetzen, dass sie Wirklichkeit werden. (Josep Borrell, 4.2.2021)