2004 ließ Dominic Ongwen seine Brigade das nordugandische Dorf Lukodi überfallen, knapp 20 Jahre später werden Dorfbewohner auf Flyern auf die Urteilsverkündigung gegen ihn aufmerksam gemacht.

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Wer meint, den Charakter eines Menschen in dessen Gesichtszügen ablesen zu können, scheint es im Fall vom Dominic Ongwen leicht zu haben. Der 46-jährige Ugander hat große, gutmütige Augen, die sein rundes Babygesicht noch harmloser erscheinen lassen – gewiss kein Antlitz, das einen das Fürchten lehrt. Und doch werden dem Mann einige der schlimmsten vor einem Gericht verhandelten Verbrechen der jüngeren Zeitgeschichte vorgeworfen: Die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag werfen ihm vor, Kinder zerstückelt, Frauen vergewaltigt, Männer gefoltert und ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht zu haben.

Insgesamt 70 schwere Verbrechen – neben Mord, Vergewaltigung und Folter auch Entführung sowie sexuelle Sklaverei – soll der damals knapp 30-Jährige im Norden Ugandas allein im Jahr 2004 begangen haben. Am Donnerstag wurde der Angeklagte zumindest in 61 der 70 Fälle von den Richtern der Haager Behörde für schuldig befunden: Jetzt werden sie nur noch über die Länge der Haftstrafe zu entscheiden haben – sie könnte bis zu 30 Jahren oder lebenslänglich ausfallen.

Einzigartig komplexer Fall

Das Verfahren galt als eines der heikelsten in der knapp 20-jährigen Geschichte des an explosiven Fällen nicht gerade armen Gerichtshofs: Nicht nur, dass zum ersten Mal ein führendes Mitglied der berüchtigten ugandischen Rebellentruppe "Lord Resistance Army" (LRA) vor dem Kadi stand. Auch weil es sich um einen "einzigartig komplexen Fall" handele: Selten stünden sich die Darstellungen der verschiedenen Seiten dermaßen widersprüchlich, moralisch komplex und paradox gegenüber", wie ein Sprecher der New Yorker Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch befindet. Der Kern der Verwicklung: Ongwen war als kleiner Junge selbst von den Kämpfern der "Widerstandbewegung des Herrn" gekidnappt worden: Er ist also Opfer und Täter in einem.

Die Verteidigung des Angeklagten sah das allerdings anders. "Ongwen ist Opfer und nicht sowohl Opfer wie Täter", sagte Rechtsanwalt Krispus Odongo in seinem Abschlussplädoyer: "Nach seiner Entführung wurde er gewaltsam zum Sklaven gemacht – und blieb Sklave, bis er die Rebellengruppe verließ."

Die LRA ist dafür bekannt, tausende entführte Kinder zu Verbrechern gemacht zu haben: Sie mussten eigene Familienmitglieder töten oder vergewaltigen – danach fühlten sie sich dermaßen schuldig, dass sie sich ohnehin nicht mehr nach Hause wagten, die Fluchtgefahr war minimiert. Je länger die Entführten die Grausamkeiten der fast kulthaften Widerstandsarmee mitmachten, desto weiter schlossen sie sich selber von ihrer Gemeinschaft aus – eine Rückkehr war ihnen verwehrt.

Gewissenloser Anführer

Ongwen soll als Zehnjähriger von LRA-Kämpfern entführt worden: Er war angeblich so schwach, dass er zum Lager der Rebellen getragen werden musste. Nachdem auch er dem mörderischen Aufnahmeritual der LRA unterzogen worden war, stellte sich der Junge bald als gewissenloser Anführer heraus: Ongwen wurde schließlich zum Kommandanten der "Sinia Brigade" ernannt – einer von vier Großeinheiten der Rebellen, der jeweils rund 800 Kämpfer angehörten.

2004 ließ der Kommandant seine Brigade das nordugandische Dorf Lukodi überfallen: Seine Kämpfer trieben die Bevölkerung in Hütten zusammen, die anschließend angezündet wurden. Wer überlebte und ein Mann war, wurde mit der Machete getötet; Frauen und Kinder mussten das Beutegut – Hausgeräte und Vieh – ins Buschquartier der Rebellen schaffen. Dort wurden sie anschließend zu Kämpfern ausgebildet, zwangsverheiratet oder immer wieder vergewaltigt.

Kein Einziger unter den von ihm vertretenen 1.500 Opfern Ongwens sei der Überzeugung, dass der Rebellenführer unschuldig sei, sagte der ugandische Anwalt Joseph Akweyu Manoba am Rand des Verfahrens. Schließlich sei der Angeklagte damals erwachsen und im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen. Auch habe er zahlreiche Gelegenheiten zur Flucht nicht wahrgenommen, fügten die Haager Ankläger hinzu: Stattdessen mauserte sich der Entführte zu einer Schlüsselfigur der LRA.

Evelyn Amony – eine der 27 Frauen des Rebellenführers Joseph Kony, die als Zwölfjährige von der LRA entführt worden war – beschrieb vor Gericht einen anderen Ongwen: "Er hat mich immer freundlich gegrüßt. Ich konnte sehen, dass er Menschen eigentlich mag." Zweifellos sei die Gewalt, der er als Junge ausgesetzt war, für seinen weiteren Lebensweg entscheidend gewesen, sagt HRW-Direktorin Jo Becker: "Trotzdem können die Verbrechen, die Ongwen als Erwachsener beging, damit nicht entschuldigt werden." Höchstens könnte es zu mildernden Umständen führen, meint die Menschenrechtsanwältin. (Johannes Dieterich, 4.2.2021)