Von der Freiheit, frei zu sein: Foto von Hannah Arendt, Historisches Museum Berlin 2020.

Foto: EPA / Clemens Bilan

Wieso mit dem Anfang beginnen, wenn man auch vom Ende her denken kann? Also beginnt der Autor Wolfram Eilenberger mit dem letzten Jahr, das im Untertitel seines neuen Buches aufscheint: mit dem Jahr 1943.

Da sitzt Simone de Beauvoir in Paris im Café de Flore an ihrem Tisch und betrachtet die Passanten, Simone Weil kämpft in England den letzten Kampf gegen politisches Abseits und Anorexie, Hannah Arendt hat es sich in New York mit der jüdischen Intelligenzija verdorben, und Ayn Rand schreibt wie manisch an ihrem Thesen-Übermensch-Roman The Fountainhead. Alle denken ganz unterschiedlich über eines nach: über Freiheit. Und wie Philosophie real nützlich werden könne.

Wolfram Eilenberger, "Feuer der Freiheit. Die Rettung der Freiheit in finsteren Zeiten 1933–1943". 25,70 Euro / 400 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2020
Cover: Klett-Cotta

Nach dem Erfolg seines Bandes Zeit der Zauberer über Heidegger, Wittgenstein, Cassirer und Benjamin und die Zwischenkriegszeit legt Eilenberger, einige Jahre lang Chefredakteur des PhilosophieMagazins, nun mit Feuer der Freiheit einen Pendant-Frauenband über die Jahre 1933 bis 1943 vor: über Arendt, de Beauvoir, Rand und Weil. Eine denkerisch ähnlich wilde Nichtgruppe also.

Erzählerisch ist das eminent, Wolfram Eilenberger liefert atmosphärisch dichte Denkerinnenporträts. Scharfsinnig werden die ganz unterschiedlichen Freiheits- und Ideenkonzepte nachgezeichnet, noch heute Aufregendes für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes herauspräpariert und intellektuell Lohnendes über Souveränität, Selbststärke und freiheitliche Demokratie präsentiert sowie bei Rand das Gegenteil dessen: die Ideologie einer extremlibertären, spätnietzscheanischen Egozentrik.

Dysfunktionalität der staatlichen Leistungsfunktionen

Merkwürdig ist, dass sich der Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag bei seinem erfolgreichsten lebenden Autor die Freiheit nahm, dessen Freiheitsbuch auch nicht einen Moment lang von einem Korrektorat behelligen zu lassen. Es finden sich viele grotesk unübersehbare Satzfehler. Auch das hastig angeklebte Schlusskapitel "Schneisen" hätte es in dieser Form nicht gebraucht.

Wie es sich mit Wirken und Einfluss der vier nach 1945 verhielt, das hätte Eilenberger breiter und zugeneigter schildern können. Arendt und Beauvoir wurden weltberühmt und weltweit umstritten wie disputiert.

Rands Bücher trugen entscheidend dazu bei, den politischen Konservativismus in den USA zu unterminieren und ab den Sechzigerjahren mit der Wahl Ronald Reagans diesen dann offiziös in einen antiliberal-"neoliberalen" Neokonservatismus zu verkehren, der die staatlichen Leistungsfunktionen bis zur Dysfunktionalität aushöhlt – beispielhaft zu sehen in den Jahren seit 2016.

Mehr Liberalismus wagen

Und Weil, Sozialistin, religiöse Visionärin, denkerisch die intensivste und die vielleicht lesenswerteste der vier? Sie war zwar in Frankreich bekannt, hierzulande weitaus weniger. Ab 1988 wurde ihr in ihrem Heimatland eine vielbändige Werkausgabe zuteil, zwischen 1991 und 1998 erschienen ihre Cahiers auf Deutsch.

Sie harrt einer Relektüre, ihr Furor, ihre Vehemenz und Brillanz sind sehr nah an der Zeit. Freiheit ist das Grundprinzip des Liberalismus. Mehr Liberalismus wagen, will man derzeit eigentlich pausenlos rufen.

Dabei wird der Liberalismus seit längerem von schlechter Reputation geplagt. Der Ort in der politischen Mitte ist gleichermaßen auf Äquidistanz zu konservativem Traditionalismus oder reaktionärer Pseudonostalgie wie zu progressiver vegan-glutenfreier Disruption.

Die liberale Demokratie erodiert. Dabei ist der Liberalismus wohl die Erfolgsgeschichte: Der "Westen" gründet seit 1789 und in den Folgejahren zutiefst im Liberalismus, in seinen Freiheitsideen, seinen Rechtsprinzipien – Unversehrtheit der Person, Schutz des Eigentums, Meinungsfreiheit, Toleranz –, seiner Beförderung von Autonomie, Individualität und Fortschritt. Andererseits ist sich der Liberalismus seiner selbst nie sicher. Er ist nachdenklich und neurotisch, neigt zu destruktiver Innenschau, zu sklerotischen Skrupeln.

Keine Ideologie

Das Kuriose in Europa ist: Liberal sein will jeder. Jeder erklärt sich zum liberalen Weltbürger. Nur sind in den vergangenen 25 Jahren mit einer Handvoll Ausnahmen, etwa den Neos, in jedem europäischen Staat liberale Parteien im Sinkflug begriffen. Liberalismus ist keine Ideologie.

Er ist eine "Idee". Der englische Politikwissenschafter Michael Freeden machte vor fünf Jahren auf etwas aufmerksam, was in der medialen Berichterstattung schon länger untergegangen ist. Die Demokratisierung, die ab 1990 in Mittel- und Osteuropa Einzug hielt, war nicht deckungsgleich mit liberaler Zivilgesellschaft.

Demokratisch bedeutet nicht automatisch liberal. Wie man für Orbáns Ungarn oder Erdoğans Türkei konstatieren kann, ist ein antiliberales Regime auch ökonomisch antiprogressiv. In seinen Repressionen unterdrückt es die Freiheiten des Denkens, die zu Innovationen führen, zu Neuem. Das Ersticken des Liberalismus führt zu Braindrain, zu Stillstand, ökonomischem Abstieg.

Ist das Grundproblem des Liberalismus vielleicht, dass er an einen komplexen, handlungsmächtigen, handlungswilligen Einzelmenschen glaubt, der sich in Zeiten von hochdifferenzierter Spezialisierung, digitaler Miniaturisierung und sozialer Atomisierung behaupten muss?

Christoph Möllers, "Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik". 18,50 Euro / 356 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2020
Cover: Suhrkamp

So viel einfacher ist es umgekehrt, sich in unübersichtlichen Zeiten in simple Antworten zu flüchten. Sich ein Weltbild aus einspruchsresistenten Vorurteilen und anstrengungslosem Schubladendenken zusammenzuzimmern, in dem jede Irritation sogleich erstickt wird. Oder erst gar nicht zu räsonieren.

Selber weiterdenken

Darüber wie auch über eine liberale Mechanik an sich denkt Christoph Möllers, Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, nach. Er hat aber verhindert, dass sein kluger Beitrag große Wirkung entfaltet.

Möllers Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik kommt zwar scheinbar seinem Publikum entgegen, da er seinen Text in 349 (!) Kurzkapitel unterteilt hat. Doch der Jurist schreibt nicht nur mit Anspruch, er schreibt häufig zäh, auch weil sein Abwägen von Wirkung und Gegenwirkung dem Wort entspricht, das im Untertitel aufscheint – es mutet zusehends mechanisch an.

Mit seinen Vignetten, deren Effekt letztlich nur Hektik ist, präsentiert er ein Mosaik, in dem es ihm darum geht, Kosten wie die sich ergebenden Chancen der so zahlreichen Aspekte von Freiheit im lebenspolitischen Vektorfeld ausbalancierend darzustellen.

Eva von Redecker, "Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen". 23,70 Euro / 320 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020
Cover: S. Fischer

Das ist am Ende urliberal. Denn eine abschließende Handlungslösung, pragmatisch umgehend anwendbar, gibt es bei ihm nicht. Er verweigert sie keineswegs absichtlich. Sondern liberal heißt nach dieser anstrengenden wie anregenden Lektüre, deren politphilosophischer Nutzen viel größer sein könnte, fundamental: selber denken. Selber weiterdenken. Mit und ohne staatlich finanziertes Geländer. Dafür mit Freiheitsgraden (Möllers).

Plädoyer für die Revolution

Was heißt: Das Ausagieren von Freiheit durch die einen führt zur Einschränkung von Freiheit für andere, ob dies nun den einzelnen Menschen betrifft, politische Verbände oder Staatenbünde.

Selber handeln, und zwar umstürzend! Das ließe sich als Fazit aus Revolution für das Leben ziehen. Die Philosophin Eva von Redecker, bis 2019 sieben Jahre lang wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin, plädierte schon vor zwei Jahren für die Revolution. Die Linie von Marx über Adorno zu Foucault zieht sie nun weiter bis in die unmittelbare Gegenwart, zu Fridays for Future und Black Lives Matter.

Revolution ist bei Eva von Redecker eine universalistische Selbstermächtigung, die die bestehende soziale Ordnung durch so etwas wie eine Share Society ersetzen soll, eine Gesellschaft also, in der so ziemlich alles geteilt werden soll.

Bewahren statt Eigentum

Eigentum ist bei ihr – und in den ersten vier Kapiteln seziert sie dies ebenso wie Waren, Arbeit und Leben – Herrschaft, destruktiv und negativ. Dagegen setzt sie eine Theorie der "Weltwahrung", eine "wilde Verbundenheit".

Also keine Hierarchisierung und profitgebundene Verwertung und Ausbeutung, stattdessen sorgsamer Umgang und Bewahren natürlicher wie zwischenmenschlicher Ressourcen. Das gemahnt inklusive so mancher Stilblüte erstaunlich oft an Oldschool-Graswurzelrevolutionskonzepte, ist insgesamt interessant.

Bernward Gesang, "Mit kühlem Kopf. Über den Nutzen der Philosophie für die Klimadebatte". 24,70 Euro / 272 S. Hanser, München 2020
Cover: Hanser

Am Ende jedoch ist Redeckers Buch zur "Harald-Welzer-Klasse" zu zählen. So wie bei dem in Berlin lebenden, populären Sozialpsychologen ist auch bei von Redecker die Argumentation mehr narrativ denn systematisch, handelt es sich stärker um mentale Befreiungsschläge denn um konsequente Anleitung zum Systemwechsel. Nicht wenigem mag man zustimmen, der immer wiederholten Aussagen wird man jedoch rasch müde.

Für einen "Green New Deal"

Dass der Mannheimer Philosoph Bernward Gesang, dessen Schwerpunkt Wirtschaftsethik ist, in Mit kühlem Kopf gleich ebenjenen propagiert, heißt nicht, dass man sein Buch nicht mit pochendem Herzen liest. Schließlich geht es um Klimakatastrophe, unumkehrbaren Weltuntergang und darum, was Philosophie dazu positiv-gegendenkerisch beitragen kann.

Er umreißt eine praktische Ethik mit Überbrückungsstrategien. Von diesen sei keine, wie er schreibt, ganz perfekt, schließlich dienten sie der Bewerkstelligung eines "Green New Deal". Utilitaristisch, so erdverbunden wie zielgerichtet, argumentiert er.

Spenden für Schwellen- und Entwicklungsländer seien etwa effektiver als Plädoyers, in den entwickelten Ländern das Konsumverhalten grundsätzlich zu verändern. Ablasshandel sei dies? Nein, so Gesang als Kantianer, vielmehr gut begründetes Verhalten. Das liest sich leicht, weil eingängig geschrieben, manchmal stören die gar nicht wenigen Flapsigkeiten. Ein nicht wirklich tiefgehendes, aber lebensphilosophisch nützliches Büchlein. (Alexander Kluy, 6.2.2021)