"Mich interessiert ein Erzähler eher, wenn sich herausstellt, dass er nicht Bescheid weiß oder erst allmählich Bescheid zu wissen beginnt über seine eigenen Abgründe": Norbert Gstrein.

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STANDARD: Mit der Geschichte, die Jakob Thurner in Der zweite Jakob erzählt, widerspricht Ihr Ich-Erzähler auch der Darstellung eines zwielichtigen Biografen, der sein Leben zur Feier von Jakobs sechzigstem Geburtstag "festschreiben" soll. Welches Bild zeichnet der Biograf von dem berühmten österreichischen Schauspieler?

Norbert Gstrein: Der Biograf macht zunächst gar nicht so viel falsch, wie ihm der Erzähler, der Jakob dieses Romans, unterstellt. Er besucht Jakob und ist damit beschäftigt, Daten zu erfassen. Jakob kommt sich vor wie in der Einwohnerbehörde und baut dagegen einen übertriebenen Widerstand auf. Es gibt dann sehr früh aber auch ein Konstrukt, das der Biograf über Jakobs Leben zu legen versucht – nämlich die Zusammenführung von Jakobs drei Ehen mit seinem dreimaligen Auftreten als Frauenmörder in Filmen.

STANDARD: Geht es für Jakob auch darum, Deutungshoheit über sein eigenes Leben zu behalten?

Gstrein: Ja. Man geht ja davon aus, man wisse selbst mehr über sich, als ein anderer wissen kann. Mich interessiert ein Erzähler jedoch eher, wenn sich herausstellt, dass er nicht Bescheid weiß oder erst allmählich Bescheid zu wissen beginnt über seine eigenen Abgründe. Er ist unsicher in diesem Gefüge, seinem In-der-Welt-sein, und stellt sich zunehmend selbst unter Verdacht.

STANDARD: Woher rührt Ihr Interesse an derartigen Erzählerfiguren?

Gstrein: Zufall kann es kaum sein. Es muss grundlegend mit mir und meinem Schreiben zu tun haben. Ich bin dahintergekommen, dass ich möglicherweise ganz am Anfang eine Setzung hatte, die mich für alles Weitere bestimmt hat. Beginnend mit dem allerersten Satz von Einer, meinem ersten Buch: "Jetzt kommen sie und holen Jakob." Und der damit einsetzenden Suche nach Antworten auf die Fragen: Wer sind die, die da kommen? Warum wird Jakob abgeholt? Wenn man einen solchen Satz hört, geht man davon aus, dass sich der Betreffende wohl schuldig gemacht haben muss. Mich interessiert aber viel mehr, dass er sich womöglich gerade nicht schuldig gemacht hat und nicht wegen irgendwelcher Taten abgeholt wird, die er begangen hat, sondern weil er ist, wie er ist. Dieses Spiel, glaube ich zumindest, treibe ich auch mit meinen Erzählern, die sich selbst den Boden unter ihren Füßen wegerzählen und am Ende vielleicht auch abgeholt werden könnten.

STANDARD: In Der zweite Jakob, in dem Sie an Ihr 1988 erschienenes Debüt anknüpfen, sieht sich Jakob Thurner mit Fragen der Schuld und der Scham konfrontiert, als ihn seine knapp zwanzigjährige Tochter Luzie fragt, was das Schlimmste gewesen sei, das er je in seinem Leben getan habe.

Gstrein: Die Frage entstammt einer Erzählung von Richard Ford, die ich vor zwei oder drei Jahren gelesen und dann zum Glück wieder vergessen habe. Unlängst ist sie mir in seinem Band Irische Passagiere wieder untergekommen, und ich habe mich an die Frage erinnert. Ich hätte vielleicht mehr Scheu gehabt, sie zu verwenden, wenn nicht dieser Prozess eines konstruktiven Vergessens eingesetzt hätte. So setzt sie Jakobs Erinnerungen an zwei unheimliche Ereignisse während eines Filmdrehs an der mexikanisch-amerikanischen Grenze in Gang.

STANDARD: Es scheint überhaupt viele amerikanische Vorbilder in Ihrem Roman zu geben, William Faulkner etwa. Und es gibt viele Motive, die an die Romane von Philip Roth erinnern.

Gstrein: Das stimmt, aber am wichtigsten beim Schreiben nicht nur dieses, sondern meiner letzten drei Romane ist für mich Teju Cole und sein Roman Open City mit der brutalen Unterminierung seines Erzählers gewesen. Für die Situierung eines der Schauplätze an der mexikanisch-amerikanischen Grenze und die Bezugnahme auf eine reale Serie von nie richtig geklärten Frauenmorden dort hat in Roberto Bolaños 2666 eine große Rolle gespielt.

STANDARD: Mit diesen Fluchtpunkten in der nord- und südamerikanischen Literatur scheinen Sie auf ähnliche Weise Ihrer österreichischen Herkunft zu entkommen wie der in Tirol geborene Jakob Thurner, der auf deutschen Theaterbühnen Erfolge feierte und schließlich sogar in Amerika gearbeitet hat. Schließt sich mit Der zweite Jakob ein Kreis zurück zu Einer und zu Ihrer eigenen Biografie?

Gstrein: Ich weiß nicht, warum ich immer meiner Herkunft entkommen muss und warum Sie mich dann immer wieder darauf zurückbringen, aber ich versuche mich gerade zu erinnern, wann ich den Entschluss gefasst habe, die Hauptfigur in diesem neuen Roman Jakob zu nennen, und komme tatsächlich auf keine Antwort. So heißt schon die Hauptfigur in Einer, und es war bereits damals eine immense Schwierigkeit, sie zu benennen. Ich habe sie schließlich nach einer realen Person benannt und bin dann nicht mehr davon losgekommen. Ich habe mich dafür entschieden, die Figur in Einer nach meinem Onkel Jakob zu benennen, weil man mich in meiner Kindheit den "zweiten Jakob" genannt hat. Das war als Drohung gemeint, wo es mit mir hinführen würde, wenn ich den Kopf nicht aus meinen Büchern herausbekäme und nicht endlich den Ernst des Lebens begriffe.

STANDARD: Das heißt, wenn Sie nicht endlich den Vorstellungen entsprächen, die man sich in Ihrem Herkunftsdorf von einem Hotelier- und Skilehrersohn machte?

Gstrein: Ja, es würde ähnlich schlimm mit mir kommen, wie es schon mit meinem Onkel Jakob schlimm gekommen ist, der im Dorf als Sonderling galt, als "Komischer", aber wenn wir so reden, geraten wir in die furchtbarsten Abgründe des Antiheimatromans, und vor denen sollten wir uns hüten. Die Geschichte von Einer war jedenfalls, wenn überhaupt, mindestens so sehr meine eigene Geschichte wie die meines Onkels Jakob, und die Entscheidung, die Figur und die Problematik aus Einer in diesem Roman noch einmal aufzunehmen, ist der Frage geschuldet, ob sich die Schwierigkeiten dieser Figur genealogisch fortsetzen könnten. Wie sehr manche der Eigenheiten, die der zweite Jakob an seiner Tochter Luzie festzustellen vermeint, mit Eigenheiten seines Onkels zu tun haben, der nie richtig ins Leben gefunden hat. Die größte Angst dieser Figur ist, "geholt" werden zu können, und der Satz "Jetzt kommen sie und holen Jakob" hat für mich eine ganz neue Aufladung erfahren, als ich das Buch Aspergers Kinder von Edith Sheffer gelesen habe. Darin erzählt die Autorin von der motorisierten Mütterberatung, die es im ländlichen Österreich schon in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gegeben habe und die dann von den Nazis nach deren eigenen Vorstellungen fortgeführt wurde. Ein mit einem Arzt, einer Pflegerin und einem "Reichswohlfahrtsvertreter" besetzter Wagen fuhr über die Dörfer und hielt nicht nur Ausschau nach Kindern, die als behindert galten oder als genetisch degeneriert, sondern auch nach solchen, die in ihrem Sozialverhalten auffällig waren.

STANDARD: Jakob Thurner hat zu Beginn des Romans nicht nur den Wunsch, den Feierlichkeiten zu seinem sechzigsten Geburtstag zu entfliehen. Er scheint überhaupt von der Sehnsucht getrieben, "aus der Welt herauszufallen".

Gstrein: Das Erstaunliche ist ja, dass dem nicht Angst entgegengesetzt wird, sondern, wie Sie sagen, eher eine Sehnsucht danach. Und diese Sehnsucht nach dem Verschwinden korreliert ja mit der Angst vor dem Festgeschriebenwerden, und das ist die Angst des Erzählers vor dem Biografen, vielleicht auch meine Angst vor Ihnen.

STANDARD: Sagen Sie mir abschließend, wer Sie sind?

Gstrein: Wer ich bin?

STANDARD: Sind Sie dieser hier?

Gstrein: Ihre Fragen spielen auf die Titel der einzelnen Teile von Der zweite Jakob an. Der erste Teil heißt "Sag ihnen, wer du bist". Diesen Spruch aus der Halbstarkensprache der Drogenleute an der mexikanisch-amerikanischen Grenze als Abschnittsbezeichnung zu nehmen war mir eine Freude. Das ist ja eine Drohung, und ich behaupte nicht, dass der Erzähler sie am Ende einlöst. Einen Hinweis bekommt man im zweiten Teil des Romans: "Du bist dieser hier". Und eine mögliche Antwort erhält man ganz am Ende: "Ein Kind im Winter", wie der abschließende Teil heißt. Das ist auf den letzten Seiten aufgelöst, wo der Erzähler darüber reflektiert, dass eines seiner Probleme vielleicht seine Distanziertheit ist. Er sagt, dass er Wärme nur aushält, wenn er davor lange genug in der Kälte war.

STANDARD: Wie werden Sie im Juni Ihren sechzigsten Geburtstag feiern?

Gstrein: Das ist nicht etwas, worüber ich mir den Kopf zerbreche, und darüber werde ich natürlich nicht reden. Aber der Erzähler bekommt ein Fest in seinem Herkunftsdorf. Er geht mit Bangen dorthin, obwohl er weiß, dass er es nicht tun sollte. Am Ende wird eine Statue für ihn enthüllt, die ihm asiatische Gesichtszüge verleiht, da sie in China angefertigt wurde, und er findet sich allein in der Kälte wieder. Er denkt darüber nach, dass er kurz vor Mitternacht geboren ist und dass er bis dahin noch vier Stunden Zeit hat. In der Verschiebung um 60 Jahre vier Stunden bis zu seiner Geburt, vier Stunden aber auch, um möglicherweise nicht 60 zu werden, weil das für ihn mit einer mathematischen, an dieser Zahl festgemachten Angst verbunden ist. (Thomas David, ALBUM, 6.2.2021)