Wie sollen Opfer über die erlebte Gewalt reden? Nicht so spät, nicht so deutlich, nicht in dieser Kleidung, mit jenem Gesichtsausdruck und solchem Verhalten. Aber wie denn dann?

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Ich beginne diese Kolumne etwas untypisch für mich damit, Ihnen zu erzählen, was ich tun werde und was nicht: Ich werde nicht über Marilyn Manson und die grauenerregenden Details der Vorwürfe schreiben, welche die Schauspielerin Evan Rachel Wood und andere Frauen gegen ihren mutmaßlichen Peiniger vorgebracht haben.

Zum einen beschäftigen sich mit diesem Fall und seinen Dimensionen schon viele Kolleginnen und Kollegen, die dazu alles Notwendige schreiben und schreiben werden.

Zum anderen versperren der Behauptungscharakter der getätigten Aussagen, Mansons künstlerische Persona und der oftmals leider schlechte Umgang mit Fällen von (sexualisierter) Gewalt den Blick auf das, was mir hierzu wesentlich erscheint.

Also werde ich stattdessen über Lauren McCluskey schreiben. Über eine junge US-amerikanische Studentin, die von ihrem Ex-Freund manipuliert, bedroht, erpresst und 2018 schließlich ermordet wurde. Von einem Mann, der vor dem Mord an McCluskey anderen, teilweise minderjährigen Frauen nachstellte, sie vergewaltigte und über sich selbst aussagte, dass er jede Frau, die er traf, mit manipulativen Taktiken überzogen habe, um zu bekommen, was er wollte.

Aber damit werde ich es nicht bewenden lassen. Denn bevor der Täter sein Opfer auf dem Campusgelände der Universität Utah hinrichtete und sich anschließend in einer Kirche selbst tötete, bat McCluskey die Campus-Polizei um Hilfe, weil sie Angst vor dem Mann hatte und er sie unter anderem mit Nacktfotos von ihr erpresste. Lauren McCluskey wurde nicht geholfen. Stattdessen zeigte der diensthabende Officer Miguel Derras die ihm von McCluskey zum Beweis anvertrauten Fotos ein paar männlichen Kollegen – auf der Wache, in öffentlichen Fluren, später sogar am Tatort. Ein Kollege erinnert sich, dass sich Derras darüber freute, "die Fotos anzuschauen, wann immer er will". Andere Kollegen gratulierten ihm zu dem "süßen Mädchen" und sagten, er könne sich "glücklich schätzen", dass er den Fall bearbeiten dürfe.

Im Stich gelassen

Die Universität Utah stritt monatelang ab, dass bei der Behandlung dieses Falls irgendetwas schiefgelaufen sein könnte. Am 22. Oktober 2020, dem zweiten Jahrestag des Mordes an Lauren McCluskey, gab die Präsidentin der Universität zu, dass ihr Tod zu verhindern gewesen wäre. Gab zu, dass alle Beteiligten die zahlreichen Beschwerden diverser Personen über Drohungen, Stalking und Gewalt seitens des Täters nicht ernst genug genommen hätten. Und gab im Namen der Universität die außergerichtliche Einigung auf eine Zahlung von 13,5 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen bekannt.

"Wir haben Lauren und ihre Familie im Stich gelassen", sagte sie bei dieser Gelegenheit. Und genau das verbindet diesen Fall mit nahezu jedem Fall von (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen. Und mit uns allen. Denn wir lassen Opfer viel zu häufig im Stich.

Wenn wieder einmal – wie in dem Fall Marilyn Manson – Stimmen laut werden, die sich darüber beschweren, dass derartige Anschuldigungen "so nicht" vorgetragen werden dürften, werden zugleich keinerlei Alternativen aufgezeigt. Nicht so spät, nicht so deutlich, nicht von Ex-Partnerinnen, nicht von mächtigen oder ohnmächtigen Frauen, nicht in dieser Kleidung, mit jenem Gesichtsausdruck und solchem Verhalten. So schon mal gar nicht. Aber wie denn dann? Was tun wir, wie viel Geld nehmen wir in die Hand, wer wird umfassend geschult, welche Einrichtungen werden geschaffen? Welche Bildungsinitiativen werden dazu bereits in Schulen initiiert, wie werden Kommunikationsstrategien verbessert? Mit welchen Mitteln wird Sexismus nachhaltig bekämpft?

Geregelte Abläufe helfen allen

Wir haben Opfern zu oft nicht mehr anzubieten, als sie kollektiv im Stich zu lassen, weil wir uns weigern, (Präventions-)Maßnahmen auf Basis der Erkenntnis zu ergreifen, dass es sich nicht um Ausnahmefälle handelt. Weil das Problem einer globalen Pandemie gleichkommt, die alle Gesellschaften durchseucht, ohne dass auch nur die leiseste Hoffnung auf Immunität besteht, und wir immer noch so tun, als handele es sich dabei um ein punktuelles Unwohlsein irgendwo jenseits des Horizonts der eigenen Lebenswirklichkeit. Wir versäumen damit – um auch das an dieser Stelle deutlich zu erwähnen – zugleich die Einrichtung von geregelten Abläufen, Protokollarien und Instanzen, die fälschlich beschuldigte Personen nutzen könnten, um sich gegen Anschuldigungen effektiv und transparent zur Wehr setzen zu können.

Anstatt Opfern Anlaufstellen und Brücken zu bauen, sehen wir tiefenentspannt dabei zu, wer es wohl bis an die Gestade unserer Aufmerksamkeit schafft, und beschweren uns dann darüber, dass nicht der ordnungsgemäße Weg eingeschlagen wurde: Wenn du über die sozialen Netzwerke kommst, hast du hier nichts zu suchen. Wenn du so sprichst, so aussiehst und dich so gibst, glauben wir dir kein Wort. Und nach 20 Jahren brauchst du schon gar nicht angekrochen zu kommen. So nicht. Aber wie dann? Wie dann? (Nils Pickert, 7.2.2021)