Raphaela Edelbauer baut eine ganze Welt nur aus den Ziffern Null und Eins: Ihr Buch "Dave" spielt in einer Zukunft, die schon längst begonnen hat.

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Im Labor der Zukunft herrscht nicht nur ausreichend Platz für Hund und Katz‘ und Spatz: In ihm scheint für das Wohl aller penibel gesorgt. Sein Inneres bietet gezählten 118.998 Menschen Platz. Die Anordnung seiner Wohnplateaus ist streng logisch und erinnert an eine mehrstöckige Relaisstation. Und weil Innenwelt und Außenwelt in Raphaela Edelbauers Prosa nicht immer klar voneinander unterscheidbar sind, könnte man auch vom freiwilligen Rückzug der Menschheit in ein funktional ausgeklügeltes Oberstübchen sprechen.

Dessen konzentrische Anlage weckt Erinnerungen an die von Michel Foucault geschilderten Gefängnissysteme. Zumal die Autorin zahlreiche Details aus dystopischen Klassikern der Neuzeit entlehnt hat. Die Priesterkaste des Labors huldigt einer künstlichen Zentralinstanz mit Namen "Dave", Titelheld von Edelbauers zweitem Roman. Das Überwachungssystem ist rotäugig und nennt sich "Red Eccles". Wem käme da nicht Stanley Kubricks reptilisch lauerndes Computerauge "HAL" aus "2001" in den Sinn?

DAVE – ebenfalls echt nur in Großbuchstaben – soll von Programmierern so lange mit "Skripts" gefüttert werden, bis er (oder sie) aus freien Stücken zu denken und zum Wohle aller zu handeln beginnt. Eine günstige Gelegenheit, noch einmal die alten Hüte der Kybernetik aufzudämpfen. Wann ist ein Zentralcomputer so weit gespeist, dass er als "sich selbst optimierende Singularität" zu agieren beginnt?

Entfärbte Wirklichkeit

Natürlich bevölkern auch normale Menschen den Roman "Dave." Nur leider drängeln sich Putzkräfte und Lebensmittelproduzenten auf den topographisch untersten Niveaus. Die Lösung der sozialen Frage scheint um den Preis der Entfärbung von Wirklichkeit erkauft. Weshalb die wenigen vorkommenden Proletarier mit Vertretern der technischen Intelligenz rasch handgemein werden. Computerfachleute wie Syz – der Ich-Erzähler als wirrer Held – erscheinen weiter oben deutlich besser aufgehoben. Wobei die Verpflegung der Zukunft generell zu wünschen übriglässt. "Knirck" nennt sich eine nährstoffreiche Kohlehydratpampe. Mit ihr verkleistern sich die Menschen ohne lukullische Ansprüche den Magen.

Als Programmierer sitzen sie dafür monatelang mit Stielaugen hinter grauen Rigipswänden. "Dave", das Buch, erfüllt die virulenten Wünsche ehrbarer Retro-Futuristen. In puncto Design zieht es die Quersumme aus "2001" und Orwells "1984". Auch Ray Bradburys ewig aktuelles "Fahrenheit 451" ist als Geschmacksstoff in Dave enthalten. Und doch gelingt es dem Roman, die mehr oder minder ehrwürdigen Vorbilder mit Fortdauer immer gründlicher zu transzendieren.

Edelbauer, Jahrgang 1990, besitzt die absolut verblüffende Gabe, philosophische Thesen in Handlungsträger zu verwandeln. Die Verwirklichung der künstlichen Superintelligenz scheint nicht anders denkbar denn als Komplott. Während der arme Syz noch meint, eine Verschwörung aufzudecken, die in höchste Kreise hineinreicht, beginnt das Buch, die eigenen Voraussetzungen auf den Kopf zu stellen. Ausgerechnet Syz fällt die Ehre zu, für Dave, das Supergehirn, Modell zu sitzen. Der Zentralrechner soll mit Material gepäppelt werden. Nur Erinnerungspartikel versetzen ihn in die Lage, die "operative Intelligenz" seiner Entwickler zu übertreffen.

Programmierer gesucht

Dumm nur, dass Syz seinerseits dazu verdammt scheint, die Biografie von jemand anderem zu "verdoppeln". Sein Vorgänger, ein Genie-Programmierer aus Wien (!), ist spurlos verschwunden. Ganz allmählich drängt sich der Verdacht auf, ein anonymer Designer-Gott könnte die "Bewohner" dieses luftdicht verpackten Termitenbaus zum eigenen, perversen Vergnügen ersonnen haben.

"Dave", Edelbauers zweiter Roman nach dem Shortlist-Buchpreistitel "Das flüssige Land", gleicht einer schwindelerregenden Reflexion auf jede Form von Autorschaft.

Während Syz noch den Freischärler mimt, der durch simples Verrücken einer Abdeckplatte hinaus ins Freie gelangt, beginnt sich "der Kleber alles Seienden" vor aller Augen aufzulösen. Die so genannte Realität ist ein "Memory Palace": eine festgefrorene Szene, deren Mitspieler zur Wiederholung der immer gleichen Handreichungen verurteilt sind. So lange eben die Server nicht überhitzen. Ein kühnes Gedankenspiel; ein gelungenes Stück Erzählkunst, das auf alle Unterscheidungen von "E" und "U" kurzerhand pfeift.

Nicht eben oft vermag ein Bösewicht von sich zu behaupten: "Ich bin ein Schlichtungsalgorithmus, nichts anderes". Das materielle Substrat unserer Zukunft spart Edelbauer jedoch nicht aus. Schlimmstenfalls leben dann 45 Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde. Tagsüber hängen "alle mit Nase und Mund in Fressrinnen", durch die eine dünne, säuerliche Nährmittellösung fließt: die Folge von "Billigflügen und Haute Cuisine", versüßt durch "günstige Zucker"!

Edelbauer hegt vielleicht keine übertriebenen Zukunftshoffnungen. Aber sie besitzt Humor. (Ronald Pohl, 6.2.2021)