Die Harmonie zwischen Vizekanzler Werner Kogler und Kanzler Sebastian Kurz hat Risse bekommen. Innenminister Karl Nehammer ist das neue grüne Feindbild.

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"Die Koalition wird nicht mehr dieselbe sein", sagt Michel Reimon, Abgeordneter der Grünen. In den letzten Tagen sei zu viel Porzellan zerschlagen worden, die Stimmung sei am Boden. Konflikte würden von nun an offen ausgetragen werden. Reimon spricht von einer Konfliktkoalition. Tatsache ist aber auch, dass die Grünen nicht mehr dieselben sind und die Koalition mit der ÖVP tiefe Spuren in der Partei hinterlässt.

Die neue Lage konnte man am Donnerstagnachmittag in der Sondersitzung des Nationalrats mitverfolgen. Nachdem Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) vom freiheitlichen Klubchef Herbert Kickl rhetorisch hergewatscht worden war, trat Nehammer selbst zu seiner Verteidigung an und ging zum Gegenangriff auf die FPÖ über.

Diese sah er in einer Reihe mit Neonazis demonstrieren, Kickl warf er gekränkte Eitelkeit und Frust vor. Heftiger Applaus in den Reihen der ÖVP-Abgeordneten. Aber nur dort. Kein einziger Abgeordneter der Grünen applaudierte. Von den Oppositionsparteien sowieso keiner.

Den Job erledigt

Als Redner schickten die Grünen dann David Stögmüller raus, kein sehr prominenter Abgeordneter, auch rhetorisch nicht die Speerspitze des Klubs. Aber Stögmüller erledigte seinen Job. Er verteidigte den Innenminister nicht.

Als Koalitionspartner wäre das so üblich – stattdessen attackierte Stögmüller, eigentlich zuständig für Rechnungshof und Landesverteidigung, den Innenminister: Nehammer habe bei den Terrorermittlungen keine gute Figur gemacht, er habe das BVT nicht im Griff, und die nächtlichen Abschiebungen der Kinder seien von einer "unmenschlichen Kälte und Brutalität" getragen. Der Innenminister und die ÖVP wollten "um jeden Preis keine Menschlichkeit zeigen". Das hat gesessen. Die ÖVP sollte jetzt wissen, woran sie mit dem grünen Koalitionspartner ist.

Dieser Koalitionspartner ist aber nicht nur höchst "angfressen", sondern auch innerlich zerrissen. Spannend ist nicht nur, wer sich bei den Grünen zu Wort gemeldet hat, sondern vor allem, wer erst gar nicht erschienen ist.

Zwei Abgeordnete wollten und konnten den Kurs der Grünen im Parlament nicht mittragen, sie blieben der Sitzung unentschuldigt fern, auch als Zeichen des Protests: Ewa Ernst-Dziedzic und Faika El-Nagashi. Die Menschenrechtssprecherin und die Integrationssprecherin.

Als sie zur namentlichen Abstimmung über die Anträge der Opposition aufgerufen wurden, waren sie nicht da, wie auch im stenografischen Protokoll des Parlaments festgehalten wurde.

Der Disziplin unterworfen

Alle anderen grünen Abgeordneten unterwarfen sich der Parteidisziplin und stimmten zum Teil zähneknirschend gemeinsam mit FPÖ und ÖVP gegen die Anträge, in denen ein humanitäres Bleiberecht und die Rückholung der abgeschobenen Kinder gefordert wurden.

In der Klubsitzung am Abend zuvor war es recht heftig zugegangen. Heftiger, als die Parteiführung zugeben will, wie Sitzungsteilnehmer dem STANDARD schildern. Parteichef Werner Kogler war anwesend, gemeinsam mit Klubchefin Sigrid Maurer versuchte er, die Abgeordneten auf Linie zu bringen. Was nicht einfach war.

Etliche Abgeordnete stellten sich gegen die Vorgabe, man dürfe die ÖVP jetzt nicht provozieren und einen Bruch der Koalition riskieren. Der Druck war groß: Niemand darf den Oppositionsanträgen zustimmen. Letztlich zogen El-Nagashi und Ernst-Dziedzic ihre Konsequenzen daraus und blieben der Nationalratssitzung fern – bewusst unentschuldigt, ein stilles Zeichen des Protests.

Bewusst vorgeführt

Am Mittwoch noch hatte es den Anschein, als stünde die Koalition an der Kippe, als würden die Grünen bewusst ihre Regierungsbeteiligung aufs Spiel setzen.

Bei vielen Abgeordneten, nicht nur auf Bundesebene, vor allem in den Bundesländern, aber eben auch im Nationalratsklub, war die Empörung über die ÖVP groß. Zum einen wegen der Abschiebungen der Kinder und der Art und Weise, wie sie erfolgten, zum anderen aber auch wegen der als Provokation und Herabwürdigung empfundenen Kommunikation vonseiten der ÖVP.

Die Grünen seien bewusst vorgeführt und als machtlose Hascherln dargestellt worden. Der als völlig überzogen empfundene Polizeieinsatz mit martialischen Wega-Beamten und Polizeihunden sitzt vielen Grünen tief in den Knochen. So geht man nicht mit Kindern um, so geht man aber auch nicht mit dem Koalitionspartner um.

Völlig ungerührt

Auf ÖVP-Seite war man völlig ungerührt. Nichts anderes habe man angekündigt und versprochen. Alle Angelegenheiten des Asyl- und Bleiberechts sowie der Integration seien klar ÖVP-Agenden, die Grünen hätten hier nichts mitzureden. Die Linie der ÖVP sei zementiert, das habe Sebastian Kurz von Beginn an klar formuliert. Im Interview mit der deutschen Welt am Sonntag zeigte sich der Kanzler optimistisch, dass die Koalition trotz Krach bis 2024 halten werde.

Was einzelne Funktionäre dann doch einräumen: Man habe die Emotionen, die an der grünen Basis hochgehen, und den Druck, der sich daraus auf die Parteispitze entwickelt, vielleicht doch unterschätzt. Aber dass gleich Parteichef Werner Kogler und Klubchefin Sigrid Maurer hier ausrücken und Dampf machen, habe nicht dazu beigetragen, die Situation wieder zu kalmieren.

Im Grünen Klub hatten Kogler und Maurer alle Hände voll zu tun, die Abgeordneten zu beruhigen. Am Vorabend der Sondersitzung war klar, dass man sich von der ÖVP nicht auseinanderdividieren lassen dürfe, dass man einheitlich vorgehen müsse.

Es könne nicht sein, dass manche Abgeordnete den zu erwartenden Oppositionsanträgen für ein Bleiberecht zustimmen und andere nicht. Es gebe im Klub ja keine unterschiedlichen Meinungen zum Thema, lautete die Argumentation, lediglich unterschiedliche Vorstellungen über den Weg.

Ende der Koalition

Und aus den Bundesländern wurde dem Klub rückgemeldet, dass insgesamt eine breite Mehrheit für eine Fortsetzung der Koalition mit dem ungeliebten Partner eintrete. Nur vereinzelt gab es Stimmen, die ein Ende der Koalition verlangten.

Die Abgeordneten Faika El-Nagashi und Ewa Ernst-Dziedzic (Bild unten) widersetzten sich der grünen Parteilinie, sie wollten im Parlament nicht mit FPÖ und ÖVP gegen ein humanitäres Bleiberecht stimmen. Sie blieben der Abstimmung unentschuldigt fern, ein stilles Zeichen des Protests gegen den Partner, aber auch die eigene Partei.
Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf

Die ÖVP kommunizierte das ganz klar: Wenn einzelne Abgeordnete mit der Opposition stimmen würden, könne man das verkraften. Wenn der Grüne Klub aber geschlossen den Oppositionsanträgen zustimmen und sich so gegen die ÖVP-Linie stellen würde, würde man das nicht akzeptieren. Das würde ein Ende der Koalition bedeuten. Das wussten am Mittwochabend auch die grünen Abgeordneten.

Kogler versuchte, die Abgeordneten zu beruhigen: Es werde etwas geben, das der ÖVP wehtun werde und das inhaltlich sehr wichtig sei. Die grünen Abgeordneten würden damit zufrieden sein, aber noch könne man auch im Klub keine Details dazu verraten. Nur wenige Abgeordnete waren eingeweiht, dass es eine sogenannte Kindeswohlkommission unter der Leitung der ehemaligen Höchstrichterin Irmgard Griss geben werde. Aber: Man werde nicht mit der Opposition stimmen, niemand.

Schlamassel

Ernst-Dziedzic und El-Nagashi fühlten sich massiv unter Druck gesetzt, auch andere Abgeordnete artikulierten ihr Unwohlsein. Letztendlich verweigerten sich aber nur die beiden der Unterwerfung. Dass ausgerechnet die Menschenrechtssprecherin und die Integrationssprecherin nicht bereit sind, die Linie der Partei mitzutragen, sagt viel über das Schlamassel aus, in dem sich die Grünen jetzt befinden.

Nach außen hin mussten aber Einigkeit und ein scharfer Kurs gegen die ÖVP demonstriert werden. Aber wie sollten die Grünen argumentieren, dass sie im Parlament einem Antrag für ein Bleiberecht nicht zustimmen, den sie im Wiener Gemeinderat noch mit Feuereifer unterstützt hatten? Indem man versucht, die Glaubwürdigkeit der SPÖ in Asyl- und Bleiberechtsfragen infrage zu stellen. Das tat dann jeder grüne Redner und jede Rednerin.

"Herr Karl" als Feindbild

Der Fokus lag aber woanders: bei Innenminister Nehammer, intern auch gerne "Herr Karl" genannt. Nehammer ist jetzt quasi offiziell das türkise Feindbild für die Grünen. Er wird damit umgehen müssen.

Dass ausgerechnet die Menschenrechtssprecherin und die Integrationssprecherin nicht bereit sind, den Kurs der Partei mitzutragen, sagt viel über das Schlamassel aus, in dem sich die Grünen jetzt befinden.
Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Die Kommission, die sich mit dem Stellenwert von Kinderrechten und Kindeswohl bei Entscheidungen zum Asyl- und Bleiberecht befassen wird, soll die Grünen zurück aufs Spielfeld führen, heißt es. Aus dem Justizministerium heraus, wo die Kommission angesiedelt ist, könne man dem Innenminister dann gute Ratschläge geben. Mehr aber auch schon nicht, dessen ist man sich auch bewusst.

Reimon versucht, das dennoch als großen Erfolg zu verkaufen, er verwies gleich einmal darauf, dass die ÖVP mit dieser Kommission höchst unglücklich sei und deren Einsetzung als Foul betrachte. Also könne das nur ein guter Schritt sein. "Sie knirschen mit den Zähnen, aber sie bleiben in der Koalition."

Mund nicht verbieten

Die Grünen meinen, mit der Kommission einen Coup gelandet zu haben. Griss sei eine bürgerliche und anerkannte Juristin, also wahrlich keine "Linksradikale", und habe das Potenzial, das türkise Lager in der Frage der Abschiebungen zu spalten. Jedenfalls soll die Diskussion über das Kindeswohl in Asylverfahren so nicht verstummen.

Griss lasse sich den Mund nicht verbieten, ist man sich bei den Grünen sicher. Aus Sicht des Juniorpartners wird sich die ÖVP den Erkenntnissen der Kommission, die Mitte des Jahres vorliegen sollen, stellen müssen – ob sie will oder nicht.

ÖVP-Klubchef August Wöginger bekräftigt, dass man mit der Kommission keinerlei Problem habe, dass sie aber nichts ändern werde. Es gelte, was im Regierungsübereinkommen stehe. Hier wollen die Grünen ihren Koalitionspartner wörtlich nehmen und drohen damit, türkise Sonderwünsche künftig zu blockieren, wenn nötig. Wenn sich die ÖVP nicht auf die Grünen zubewegt, käme man in anderen Fragen auch nicht zusammen. Das Thema Sicherheit haben Kogler und Co als türkise Achillesferse definiert.

Wie die Grünen aus ihrem Schlamassel rauskommen, ist ungewiss. Eine Änderung der Gesetzeslage mit der ÖVP scheint aussichtslos, daran glaubt niemand. Sehr wohl könne man aber die Praxis ändern, dabei könne auch die Griss-Kommission helfen. Jede Änderung in der Abschiebepraxis müsse aber so vor sich gehen, dass es in der Öffentlichkeit unbemerkt bleibt, sonst macht die ÖVP nicht mit.

Sollte es den Grünen also gelingen, die Abschiebepraxis zu verändern, könnten sie es nicht als ihren Erfolg verkaufen. Damit wären sie unbedankt die Guten und blieben weiterhin als Büttel der ÖVP in der Kritik. Das halten sie auf Dauer nicht aus.

Wann es kracht, ist ungewiss. Dass es krachen wird, gilt als sicher. (Jan Michael Marchart, Michael Völker, 6.2.2021)