Als Anna Veith (31) vergangenes Jahr ihre aktive Karriere für beendet erklärte, waren die zahlreichen Erfolge der Salzburgerin wieder da. Der Skisport begleitet sie aber auch ohne Zeitmessung und Zieleinlauf.

STANDARD: Ist der Skisport noch zu retten?

Veith: Muss er gerettet werden?

STANDARD: Sagen wir so: Er hatte schon einmal glorreichere Tage.

Veith: Ja. Ich glaube, dass wir in kritischen Zeiten leben, in denen viel hinterfragt wird, und der Skisport ist ein Teil davon. Er verändert sich ja auch. Für mich ist es der schönste Sport, den es gibt. Für viele Menschen ist er aber eben auch eine Belustigung, und es geht mehr um das, was rundherum passiert. Die Diskussion um die Öffnungen der Skilifte ist eine spannende.

"Skifahren ist ein Stück Freiheit, auch wenn selbstverständlich die Gesundheit der Menschen Priorität hat."
Foto: APA/MIRJA GEH

STANDARD: Also Skilifte auf?

Veith: Ja. Das könnte auch dazu beitragen, dass man Skifahren wieder mehr als Sport im faszinierenden alpinen Raum und nicht als Belustigung sieht. Und es ist wichtig, rauszukommen, nicht nur körperlich, sondern auch für die Psyche. Skifahren ist ein Stück Freiheit, auch wenn selbstverständlich die Gesundheit der Menschen Priorität hat.

STANDARD: Federica Brignone hat vor der WM gesagt, sie fühle gar nichts. Kann man das nachvollziehen, es ist immerhin eine Weltmeisterschaft?

Veith: Ich war heuer bei keinem Rennen vor Ort, weiß aber, wie es sich anfühlt, wenn man keine 50.000 Zuschauer wie bei der WM in Schladming im Ziel hat. In Lake Louise sind wir jedes Jahr vor 50 Zusehern gefahren. Es ist ein großer Unterschied, denn es prägt den Sport mit. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für die Athleten schwieriger ist.

STANDARD: Das Konzept der TV-Übertragungen von Skirennen ist seit Jahrzehnten unverändert. Ist das noch zeitgemäß?

Veith: Es wäre interessant, was sich bei Übertragungen ändern ließe und welche technischen Möglichkeiten es noch gäbe. Die Schweizer haben zum Beispiel einen Vorläufer mit der Kamera begleitet. Man konnte die Geschwindigkeit und die Bewegungen viel besser nachvollziehen. Die Geräusche, das Eis, wenn eine Stange wegfliegt, wie laut das eigentlich alles ist – alpinen Skisport mit allen Sinnen erleben.

STANDARD: Sie waren Österreichs letzte Gesamtweltcupsiegerin. Seither geht da nichts mehr. Ist man zu fixiert auf die Spezialdisziplinen? Oder ist allround sowieso fad?

Veith: Der Gesamtweltcup ist für mich das Größte und das Schwierigste, das man sportlich erreichen kann. Der Sport hat sich in den vergangenen Jahren sehr in Richtung Spezialisierung entwickelt. Man hat bei Marcel Hirscher gesehen, dass man über die technischen Disziplinen einen Gesamtweltcup gewinnen kann, bei den Damen musste man in drei Disziplinen Sieganwärterin sein. Es ist schwieriger geworden, eine Gesamtweltcupsiegerin zu kreieren.

STANDARD: In Kitzbühel gab es wieder eine große Sicherheitsdebatte. Muss der Skisport immer schneller werden?

Veith: Bei der Geschwindigkeit spielen viele Faktoren eine Rolle. Die Beschaffenheit des Schnees, das Wetter, der Skisport ist ein Freiluftsport, und da kann man nicht immer alles beeinflussen. Trotzdem muss man etwas machen, die Stürze werden nicht weniger, sondern gefühlt mehr und schwerer.

STANDARD: Sie haben den Großteil Ihres Lebens im Österreichischen Skiverband verbracht. Läuft man bei allen Vorteilen nicht auch Gefahr, sich selbst oder seinen Weg aufzugeben?

"Es ist schwieriger geworden, eine Gesamtweltcupsiegerin zu kreieren."
Foto: Simon Rainer

Veith: Es kommt auf die Persönlichkeit an, ob man diese Individualität braucht oder sich lieber als Teil der großen Gruppe sieht. Am Ende zählt, wie man die beste Leistung erbringen kann. Jedes System hat Vor- und Nachteile, ich musste Kompromisse eingehen.

STANDARD: Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückschauen, würden Sie etwas anders machen?

Veith: Eigentlich nicht. Ich habe aus allem gelernt, und alles hatte seinen Grund. Die Verletzungen hätte ich mir natürlich gerne erspart. Aber wenn ich zurückschaue, bin ich sehr zufrieden.

STANDARD: Man hat von außen das Gefühl, dass man im Verband Athleten, die mit ihrer Meinung neben der Piste fahren, nicht unbedingt gern hat. Täuscht das?

Veith: Es gibt wie in jedem System Regeln, an die man sich auch halten muss. Einerseits hat man den angenehmen Athleten, der mitschwimmt, und es gibt andererseits den Athleten, der seine eigene Meinung hat und dadurch auch aneckt. Es geht darum, Entscheidungen zu treffen, die auch falsch sein können. Es ist wichtig, mündige Athleten zu haben.

STANDARD: Ein kleines Gedankenspiel: Sie werden als ÖSV-Präsidentin vorgeschlagen. Würden Sie es machen?

Veith: Nein.

STANDARD: Der Skisport ist in Österreich ganz besonders im medialen Fokus, das erzeugt Druck. Wie geht man damit um?

Veith: Man wächst rein. Als ich jung und im Europacup erfolgreich war, hat man schon gesagt, dass ich die neue Annemarie Moser-Pröll werde, und ich habe lange gebraucht, damit umzugehen. Das ist in Österreich sicher speziell. Aber der Druck hat mich stärker gemacht.

STANDARD: In der Außenwahrnehmung gibt es zwischen Männern und Frauen im Skisport Unterschiede. Wenn eine Frau Kritik äußert, ist sie eine Zicke, bei Männern ist man nicht so schnell mit Klischees. Ist der Skisport nach wie vor männlich?

Anna Veith mit ihrer Goldenen von Sotschi.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Veith: Ja, und das verändert sich nur sehr langsam. Teamintern ist die Wertschätzung aber auf jeden Fall da. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen.

STANDARD: Bei Athleten, die besonders im Rampenlicht waren, hat man das Gefühl, dass sie nach der Karriere ihre Ruhe haben wollen. Marcel Hirscher, Hermann Maier und auch Sie. Ist man den Rummel leid?

Veith: Ich kann nur für mich sprechen, aber man ist einfach müde und erschöpft. Eigentlich will man nur den Sport ausüben, der Rummel kommt automatisch. Zwischendurch hat man das Gefühl, dass man mehrere Jobs gleichzeitig macht. Man ist Sportler, das ist schon anstrengend, und eine Person der Öffentlichkeit. Nach der Karriere wollte ich mich einfach erholen.

STANDARD: Gratulation zum erwarteten Nachwuchs übrigens. Der Fußballweltverband hat kürzlich den Mutterschutz in seine Regularien aufgenommen. Das würde doch auch dem Skisport ganz gut tun, oder?

Veith: Danke, und ja, es ist eigentlich mittelalterlich, dass es da keine Regeln gibt. Das Regelwerk der Weltranglistenposition trifft ja auch auf Verletzungen zu. Da fehlt der Schutz, man verletzt sich ja nicht absichtlich. Und wenn ich während meiner Karriere schwanger geworden wäre, hätte ich meinen Startplatz komplett verloren. Das hat im Skisport eine große Auswirkung.

STANDARD: Sie betreiben in Schladming ein Hotel. Wie war das Jahr für Sie?

Veith: Der Sommer war unerwartet gut, aber der Winter jetzt ist eine Katastrophe. Durch den Sommer können wir aktuelle Verluste halbwegs kompensieren, es sind aber viele Sorgen da. Auf der anderen Seite muss man dankbar sein, dass es uns gutgeht und wir hier in Schladming viele Möglichkeiten haben rauszugehen. Und wir haben endlich einmal mehr Zeit.

STANDARD: Wann waren Sie das letzte Mal Ski fahren?

Veith: Heute Vormittag. (Andreas Hagenauer, 8.2.2021)